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in dem nahezu 1 Millon Menschen umfassenden, von einer
schwierigen Arbeiterbevölkerung durchsetzten Dreistädtebezirk
fürchtete. Einzelne Patrouillen waren wohl eingedrungen,
aber nicht zurückgekehrt.
Da traf am 11. Oktober die sichere Nachricht ein, Lille,
anscheinend eine ganz moderne Festung mit zahlreichen starken
Außenforto, sei vollständig kriegsmäßig besetzt. Aus nörd-
licher Richtung waren Truppentransporte nach Lille fahrend
festgestellt worden. Auch über die Anwesenheit von Eng-
ländern in Lille traf Kunde ein.
Das XIX. Armeekorps war mittlerweile dem Oberkom-=
mando der sechsten Armee, Kronprinz Rupprecht von
Bayern, unterstellt worden. Von diesem traf 3,15 Uhr
nachmittags der Befehl ein, heute noch Lille zu nehmen.
Ein Teil der Truppen des Korps befand sich noch auf
dem Marsche nach seinen Quartieren, die für heute 13 bis
16 Kilometer südlich von Lille um Pont-à-Marcq bestimmt
worden waren.
Den Verlauf der Einnahme von Lille schildert die Liller
Kriegszeitung in ihrer 100. Festnummer vom 13. Oktober
1915 sehr anschaulich wie folgt:
„Iwischen 3 und 4 Uhr wurden die Truppen des XIX.
Armeekorps, soweit sie schon zur Ruhe übergegangen waren,
alarmiert, soweit sie noch auf dem Marsche waren, er-
hielten sie den Befehl, weiter auf Lille vorzugehen. Das
bedeutete nahezu einen zweiten Tagesmarsch an demselben
Tage, aber das waren die Sachsen gewöhnt. Laufen hatte
man gelernt beim Vormarsch in Frankreich. Wo Kampf
und Sieg winkten, da gab es keine Müdigbeit. Dennoch
erreichten die Truppen des Korps, nachdem sie die Forts-
linie unbesetzt gefunden hatten, die Stadt selbst erst nach
Einbruch der Dunkelheit und stießen hier an der Stadt-
umwallung auf kräftigen Widerstand, dessen Stärkbe sich
vorläufig nicht feststellen ließ. Noch jetzt in der Nacht
einen Angriff zu unternehmen, erschien aussichtslos; die
Stadtumwallung, die Lille von Süden, Südosien und
Südwesten noch lückenlos umschließt, war mit ihren hohen
und starken Wällen und tiefen, zum Teil versunpften
Gräben ein durchaus sturmfreies Hindernis. Und selbst,
wenn man die Stadtumwallung gewann: was ein Häuser-
kampf bei Dunkelheit bedeutete, das wußte das Korps
auc vielen blutigen Nächten in Belgien. Der Angriff wurde
deshalb auf den kommenden Morgen verschoben.
Die Nacht brach herein, eine bitterkalte Oktobernacht.
Die 40. Infanteriedivision (Generalleutnant Götz v. Olen-
husen) hatte mit vorderer Brigade Bärensprung (88. In-
fanteriebrigade, Regimenter 104 und 181, Feldartillerieregi-
ment 68, II./Fußartillerieregiment l9 ohne 6. und 8. Batte-
rie, 3. Kompagnie Pioniere 22), die Bahn nördlich Petit-
Nonchin erreicht, die Brigade v. Seyd ewitz (89. Infanterie-
brigade mit Feldartillerieregiment 32) verblieb bei Pont-d-
Marcq. Die 24. Halbdivision v. Falkenstein (Regimenter 139
und 179, Jäger 13, Feldartillerie 77, 6. und 8. Batterie
Fußartillerie 19, 1. und 2. Pioniere 22) — der Rest der
24. Infanteriedivision war zunächsi noch in der Champagne
geblieben — erreichte I'Arbrisseau.
Die beiden Kavallerieregimenter des Korps (Ulanen 18
und Husaren 19) waren seit nachmittags unterwegs, um,
ösilich und westlich um Lille herumgreifend, ein Aus-
weichen des Gegners zu verhindern. Noch während der
Nacht erreichten ihre Patrouillen die nordöstlich und nord-
westlich aus Lille herausführenden Bahnen und spreng-
ten sie.
Von der 40. Infanteriedivision wurde noch am Abend des
1. Oktober ein Versuch gemacht, die Stadt ohne Blutver-
gießen in deutsche Hand zu bekommen. Zwei Einwohner
wurden in die Stadt geschickt mit der schriftlichen Auf-
forderung zur Ubergabe bis 9 Uhr abends. Als eine Ant-
wort bis 9,30 Uhr abends nicht eintraf, erhielt die Artillerie
der 40. Infanteriedivision Befehl, durch eine kurze Be-
schießung der Stadt der Ubergabeforderung Nachdruck zu
verleihen. Die Boten kehrten jedoch nicht wieder.
Die Nacht wurde dazu benutzt, das Angriffögelände
zu erkunden; die insbesondere durch die Pioniere mit Kühn-
heit und Umsicht ausgeführten Patrouillen ergaben die
schon erwähnte Sturmfreiheit der Wälle an der in Aus-
sicht genommenen Angriffsfront. Ein Eindringen in die
Stadt erschien hier nur durch die Tore möglich; diese
fand man jedoch stark verbarrikadiert, mit Hindernissen
versehen und besetzt.
Der Morgen des 12. brach an, ein nebliger Oktober=
morgen, der schönes Wetter versprach. Nach dem Korps-
befehl sollte die 40. Infanteriedivision mit 88. Infanterie-
brigade beiderseits der Straße Pont-à-Marcq—Lille, die
halbe 24. Infanteriedivision im Anschluß auf und wesitlich
Straße Seclin—dille vorgehen, die 89. Infanteriebrigade
mit Jägerbataillon 13 und Feldartillerieregiment 32, west-
lich um Lille herumgreifend, die Zitadelle angreifen und
dem Feind den Rückzug nach Westen verlegen. Das
preußische Detachement v. Wahnschaffe, das von OÖsten her
gegen Lille im Anmarsch war, sollte sich über Hellemmes
dem Angriff der 40. Infanteriedivision anschließen.
Befehlsgemäß traten 7 Uhr vormittags die Regimenter
zum Vorgehen auf der Südfront an. Dichter Nebel und
die enge Bebauung erschwerten die Orientierung und Ver-
bindung. Je mehr sich jedoch der Nebel lichtete, um so
rascher wurde der Angriff vorgetragen. Im allgemeinen
befand sich trotz lebhaftem Feuer von dem Hauptwall und
überhöhend aus den dahinterliegenden Häusern der Vor-
wall gegen 10 Uhr vormittags überall in unserem Besitz.
Doch noch immer trennte der tiefe, versumpfte Graben
und der gutverteidigte Hauptwall den Angreifer von der
Stadt. Versuche, die Tore mit stürmender Hand zu neh-
men, blieben trotz vorbereitenden Artilleriefeuers erfolglos.
Die bis zu 15 Meter starken Festungsanlagen spotteten
der Geschosse unserer Feldgeschütze.
Wiederum scholl von Westen das dumpfe Nollen hef-
tigen Artilleriekampfes herüber. Es bewies, daß unsere
Heereskavallerie auch heute in hartem Kampfe mit dem
zum Entsatze von Lille herbeieilenden Gegner stand. Ehe
dessen Einwirkung sich fühlbar machen konnte, mußte das
Schicksal der Stadt zu unseren Gunsten entschieden sein.
Bevor zu schärferen Maßregeln geschritten wurde, die un-
vermeidlich die Stadt selbst in Mitleidenschaft ziehen
mußten, sollte Lille noch einmal Gelegenheit gegeben wer-
den, weiteren Schrecken von sich abzuwenden. Deoöhalb
wurde ein Parlamentär in die Stadt geschickt mit der
Aufforderung, diese zu übergeben, widrigenfalls das Feuer
rückwärts in die Stadt verlegt werden würde. Der Kom-
mandeur der 40. Infanteriedivision bestimmte hierzu Haupt-
mann Fiedler, den Adjutanten der 40. Feldartilleriebrigade.
Der französische Kommandant weigerte sich. jedoch, Haupt-
mann Fiedler zu empfangen und lehnte die UÜbergabe ab.
Hierauf wurde das Feuer der Artillerie auch auf die an
die Wälle angrenzenden Stadtteile übergeleitet und gegen
die Tore selbst stärkere Artilleriewirkung vereinigt. Der
Infanterieangriff kam aber trotzdem nur wenig vorwärts.
Auf dem linken Flügel gelangten die 139er und 179er
über ihre beiderseits der Porte des Postes am Vor-
mittag erreichten Stellungen bis zum Abend nicht wesent-
lich mehr hinaus. Ein schlichtes Denkmal auf dem Walle
vor diesem Toer gibt Kunde von den Angehörigen der
beiden Regimenter, die hier gefallen sind. Ihr Tod war
nicht umsonst: der Feind wurde festgehalten und verhindert,
Kräfte nach dem östlichen Flägel zu ziehen, wo sich der
Tag entscheiden sollte.
Dort gewann der Angriff bis zum Nachmittag auch
nur schwer Boden. Der rechte Flügel der 40. Division