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West und Ost wahrlich vollbracht. Wäre die ganze Kraft,
deren Deutschland fähig war, bei Kriegsausbruch verfügbar
gewesen, so hätte es nicht einmal eines überragenden Feld-
berrngenies i im Wesien bedurft, um die Franzosen und Eng-
länder mit einem kurzen Gewaltschlag niederzuzwingen.
Gott sei Dank fehlte auch bei unsern Westgegnern ein
die Gegenwart überragender Feldherr. Der französische
General Joffre hatte in küyler Besonnenheit bis zur Marne-
schlacht Hervorragendes geleistet. Von da ab ist es ihm
nicht mehr gelungen, die günstige Kriegslage voll aus-
zunützen.
Er war zunächst mit seiner dreifachen Uberlegenheit ein-
fach den Deutschen über die Marne gefolgt, als sie, an
Körperkraft und Schießvorrat nahezu erschöpft, über die
Aisne abrückten.
Joffre beschränkte sich zunächst darauf, frontal gegen das
plötzlich frontmachende deutsche Einfallsheer anzurennen.
Dann verwandte er die ihm von allen Fronten zuströmenden
Überkräfte einseitig zur Umfassung des deutschen rechten
Flügels. Diese aber führte angesichto der steto rechtzeitig
wirksam werdenden deutschen Gegenmaßnahmen zu einer
weiteren Frontverlängerung nach Norden bis ans Meer,
nicht aber zu einer kriegoentscheidenden Umklammerung
des deutschen Einfallsheeres. Die französische Heeresleitung
klebte an den Scheinerfolgen auf der Front, ihr Geist ent-
behrte des Adlerfluges, der den Ereignissen vorauseilt.
Aus der Skizze 19 sind die Züge und Gegenzüge bei
diesem Ringen um die Flanke von Mitte September bis
Mitte Oktober ersichtlich. Dem kriegöospielmäßigen Plan-
ringen der beiderseitigen Generalstäbe entsprach der Wettlauf
der angesetzten Truppen, Leistungen von bis dahin für un-
möglich gehaltenem Höchstmaß heischend in Bahnausnutzung,
Marsch und Kampf.
Die französische Heeresleitung hatte am 12. September
stolz verkündet, daß sie das geschlagene deutsche Einfalls-
heer über die Marne und Aione auf die Enge des Maas-
tales beiderseit Sedan verfolgte. Folgerichtig hätte sie zur
überholenden Verfolgung das gewaltige Bahnnetz auf beiden
Flanken ausnützen müssen, rechts von Verdun aus, um den
Feind zwischen Maas und Ardennen einzukeilen, links von
Lille aus, um über die Schelde nach Belgien vorzubrechen
im Zusammenärbeiten mit den von Antwerpen her vor-
dringenden Belgiern, während das englische Feldheer, dessen
Verstärkungen unausgesetzt an der flandrischen Küste aus-
geschifft wurden, naturgemäß die Mitte der gewaltigen
Stoßgruppe zu bilden hatte, um Belgien reinzufegen und
das deutsche Einfallsheer in Flanke und Rücken zu fassen.
Auf dem rechten Flügel der Kriegsfront der Westmächte
hatte die französische Festungsfront Belfort—Verdun die
Kriegsprobe glänzend bestanden. Die deutsche sechste Armee
war vor der gepanzerten Ostfront von Nancy Anfang Sep-
tember und gleichzeitig die deutsche siebente Armee vor den
betonierten Meurthestellungen um St.-Dis festgefahren:
Von dort hatte Joffre im September und Oktober mehr
als die Hälfte der bei Kriegsbeginn dort versammelten
0 Armcekorps und der zahlreichen dortigen Reservedivisionen
nach seinem Westflügel hinübergezogen. Diese Masse, auf
kürzestem Wege nach Verdun geworfen und rechts der Maas
auf Montmédy (8o km) und Carignan (40 km) vorgeführt,
vermochte die einzige deutsche Bahnverbindung nach dem
Aionebecken abzudrosseln und das zurückgehende deutsche
Einfallsheer beim Uberschreiten der Maas und beim Ein-
fädeln in die Ardennenstraßen zu fassen. Verdun war für
die französische Hecresleitung jetzt das Schultergelenk für
den Schwertarm, der den Todessioß in den Rücken Jung-
Siegfrieds zu führen hatte, der tollkühn bis zu Frankreichs
Hauptstadt vorgestürzt war.
Abnlich günstig standen für die Franzosen Mitte Sep-
tember 1914 die Verhältnisse auf dem Wesiflügel. Nichts
hinderte die volle Bahnausnutzung zwischen dem Seinebecken
und dem Raume von Lille zur Versammlung einer großen
Westsloßgruppe. Um Lille hatte schon bei Kriegsbeginn
die Reservearmee versammelt werden sollen. Es war nicht
dazu gekommen. Mit dem Aufbau einer Stoßgruppe auf
Linie Lille—Antwerpen wäre auch den englischen Wünschen
mehr entsprochen worden. Tatsächlich wurde Ende Sep-
tember der englische Marschall French mit seinen 6 In-
fanteriedivisionen und 2 Kavalleriedivisionen von seiner Re-
gierung von der Aisne dorthin abberufen und alsbald durch
englische, bis Mitte Oktober ausgeschiffte Verstärkungen
auf 12 Infanterie= und 3 Kavalleriedivisionen gebracht.
Zweifellos wäre dadurch der deutsche Ubergang in die
geschlossene Abwehrfront vom Jura bis zum Meer ver-
eindert, der rasche Fall von Antwerpen (9. Oktober) ver-
hütet, vielleicht ein beträchtlicher Teil von Belgien befreit,
jedenfalls dem deutschen Gegner die Freiheit des Han-
delns entwunden worden.
Als deutscher Soldat bin ich natürlich überzeugta. daß
auch dann noch das deutsche Feldheer, weil an innerem
Wert unendlich überlegen und auf diese Weise seinem Lebens-
element, dem Bewegungskriege, wiedergegeben, schließlich
bei dem Völkerringen in offener Feldschlacht obgesiegt hätte.
Dann aber hätte nicht gleichzeitig auch der Bewegungs-
krieg gegen die russische Ubermacht im Osten geführt wer-
den können! Soviel steht fest, der Ubergang zum Abwehr-
krieg im Westen ist von der deutschen Heeresleitung dem
Gegner aufgezwungen worden. Die Vorhand, die unfre
Feinde sich in der Marneschlacht vermeintlich erkämpft
batten, ist bei dem September-Oktoberringen um die West-
flanke wieder auf die deutsche Führung übergegangen.
Aber der Stellungskrieg entsprach in keiner Weise dem
deutschen Angriffsgeist und der deutschen Heereterziehung.
Um so größer ist das Verdienst unfrer Feldgrauen, die vier
bittere Winter hindurch in meist verschlammten, oft ver-
eisten, fast stets mit einem Höllenfeuer überschütteten Lauf-
gräben ausgehalten haben. Sie haben die deutsche Waffen-
ehre gerettet.
Die französische Heeresleitung ist nach der Marneschlacht
strategisch nicht über die japanischen Führerleistungen vor
und bei Mukden hinausgewachsen. Sie hat sich durch ihr
einseitiges Versteifen auf Umfassung des deutschen Weft-
bzw. Nordflügels die Vorhand, die in der Marneschlacht
ihr zugefallen war, schnell wieder entwinden lassen. Was
von der Heeresleitung der Westmächte nach der Marne-
schlacht bis zum Jahresschlusse 1914 geleistet wurde, war
zunftmäßige Generalstabsarbeit. Sie hatte nichts an sich
von dem Geiste neuzeitlichen Feldherrntums, welches das
im Osten neuaufgegangene Feldberrngestirn
Ludendorff in unerreichter Meisterung der Kriegomittel des
20. Jahrhunderts auszustrahlen begann. Im Osten däm-
merte, noch kaum erkennbar hinter düsterem Sorgengewölk,
das Licht der Siegessonne für die Mittelmächte auf. Ein
Hoffnungsstrahl verklärte den Schluß des furchtbar schweren
Kriegsjahrec 1914. Auf seinen Schlachtfeldern war der
größte Teil der Berufsoffiziere und -unteroffiziere in bei-
spielloser Selbstaufopferung dahingesunken. An ihre Stelle
traten in unerreichter Leisiungskraft aus allen Schichten
des wehrhaftesten Volkes der Welt entstammende Reserve-,
Landwehr= und Landsturmführer. Sie haben mit dem in
Sellstzucht geheiligten deutschen Volksheer dann das Wunder
erfüllt, das wir durchlebten. Sie haben 4 Jahre durch-
gehalten gegen den Ansturm einer Welt von Feinden, bis
dann das elende Geschlecht von 1918 ihnen in der Novem-
berrevolution in den Nücken fiel.