Full text: Sachsen in großer Zeit. Band II. Die Kriegsjahre 1914 und 1915. (2)

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West und Ost wahrlich vollbracht. Wäre die ganze Kraft, 
deren Deutschland fähig war, bei Kriegsausbruch verfügbar 
gewesen, so hätte es nicht einmal eines überragenden Feld- 
berrngenies i im Wesien bedurft, um die Franzosen und Eng- 
länder mit einem kurzen Gewaltschlag niederzuzwingen. 
Gott sei Dank fehlte auch bei unsern Westgegnern ein 
die Gegenwart überragender Feldherr. Der französische 
General Joffre hatte in küyler Besonnenheit bis zur Marne- 
schlacht Hervorragendes geleistet. Von da ab ist es ihm 
nicht mehr gelungen, die günstige Kriegslage voll aus- 
zunützen. 
Er war zunächst mit seiner dreifachen Uberlegenheit ein- 
fach den Deutschen über die Marne gefolgt, als sie, an 
Körperkraft und Schießvorrat nahezu erschöpft, über die 
Aisne abrückten. 
Joffre beschränkte sich zunächst darauf, frontal gegen das 
plötzlich frontmachende deutsche Einfallsheer anzurennen. 
Dann verwandte er die ihm von allen Fronten zuströmenden 
Überkräfte einseitig zur Umfassung des deutschen rechten 
Flügels. Diese aber führte angesichto der steto rechtzeitig 
wirksam werdenden deutschen Gegenmaßnahmen zu einer 
weiteren Frontverlängerung nach Norden bis ans Meer, 
nicht aber zu einer kriegoentscheidenden Umklammerung 
des deutschen Einfallsheeres. Die französische Heeresleitung 
klebte an den Scheinerfolgen auf der Front, ihr Geist ent- 
behrte des Adlerfluges, der den Ereignissen vorauseilt. 
Aus der Skizze 19 sind die Züge und Gegenzüge bei 
diesem Ringen um die Flanke von Mitte September bis 
Mitte Oktober ersichtlich. Dem kriegöospielmäßigen Plan- 
ringen der beiderseitigen Generalstäbe entsprach der Wettlauf 
der angesetzten Truppen, Leistungen von bis dahin für un- 
möglich gehaltenem Höchstmaß heischend in Bahnausnutzung, 
Marsch und Kampf. 
Die französische Heeresleitung hatte am 12. September 
stolz verkündet, daß sie das geschlagene deutsche Einfalls- 
heer über die Marne und Aione auf die Enge des Maas- 
tales beiderseit Sedan verfolgte. Folgerichtig hätte sie zur 
überholenden Verfolgung das gewaltige Bahnnetz auf beiden 
Flanken ausnützen müssen, rechts von Verdun aus, um den 
Feind zwischen Maas und Ardennen einzukeilen, links von 
Lille aus, um über die Schelde nach Belgien vorzubrechen 
im Zusammenärbeiten mit den von Antwerpen her vor- 
dringenden Belgiern, während das englische Feldheer, dessen 
Verstärkungen unausgesetzt an der flandrischen Küste aus- 
geschifft wurden, naturgemäß die Mitte der gewaltigen 
Stoßgruppe zu bilden hatte, um Belgien reinzufegen und 
das deutsche Einfallsheer in Flanke und Rücken zu fassen. 
Auf dem rechten Flügel der Kriegsfront der Westmächte 
hatte die französische Festungsfront Belfort—Verdun die 
Kriegsprobe glänzend bestanden. Die deutsche sechste Armee 
war vor der gepanzerten Ostfront von Nancy Anfang Sep- 
tember und gleichzeitig die deutsche siebente Armee vor den 
betonierten Meurthestellungen um St.-Dis festgefahren: 
Von dort hatte Joffre im September und Oktober mehr 
als die Hälfte der bei Kriegsbeginn dort versammelten 
0 Armcekorps und der zahlreichen dortigen Reservedivisionen 
nach seinem Westflügel hinübergezogen. Diese Masse, auf 
kürzestem Wege nach Verdun geworfen und rechts der Maas 
auf Montmédy (8o km) und Carignan (40 km) vorgeführt, 
vermochte die einzige deutsche Bahnverbindung nach dem 
Aionebecken abzudrosseln und das zurückgehende deutsche 
Einfallsheer beim Uberschreiten der Maas und beim Ein- 
fädeln in die Ardennenstraßen zu fassen. Verdun war für 
die französische Hecresleitung jetzt das Schultergelenk für 
den Schwertarm, der den Todessioß in den Rücken Jung- 
Siegfrieds zu führen hatte, der tollkühn bis zu Frankreichs 
Hauptstadt vorgestürzt war. 
Abnlich günstig standen für die Franzosen Mitte Sep- 
tember 1914 die Verhältnisse auf dem Wesiflügel. Nichts 
hinderte die volle Bahnausnutzung zwischen dem Seinebecken 
und dem Raume von Lille zur Versammlung einer großen 
Westsloßgruppe. Um Lille hatte schon bei Kriegsbeginn 
die Reservearmee versammelt werden sollen. Es war nicht 
dazu gekommen. Mit dem Aufbau einer Stoßgruppe auf 
Linie Lille—Antwerpen wäre auch den englischen Wünschen 
mehr entsprochen worden. Tatsächlich wurde Ende Sep- 
tember der englische Marschall French mit seinen 6 In- 
fanteriedivisionen und 2 Kavalleriedivisionen von seiner Re- 
gierung von der Aisne dorthin abberufen und alsbald durch 
englische, bis Mitte Oktober ausgeschiffte Verstärkungen 
auf 12 Infanterie= und 3 Kavalleriedivisionen gebracht. 
Zweifellos wäre dadurch der deutsche Ubergang in die 
geschlossene Abwehrfront vom Jura bis zum Meer ver- 
eindert, der rasche Fall von Antwerpen (9. Oktober) ver- 
hütet, vielleicht ein beträchtlicher Teil von Belgien befreit, 
jedenfalls dem deutschen Gegner die Freiheit des Han- 
delns entwunden worden. 
Als deutscher Soldat bin ich natürlich überzeugta. daß 
auch dann noch das deutsche Feldheer, weil an innerem 
Wert unendlich überlegen und auf diese Weise seinem Lebens- 
element, dem Bewegungskriege, wiedergegeben, schließlich 
bei dem Völkerringen in offener Feldschlacht obgesiegt hätte. 
Dann aber hätte nicht gleichzeitig auch der Bewegungs- 
krieg gegen die russische Ubermacht im Osten geführt wer- 
den können! Soviel steht fest, der Ubergang zum Abwehr- 
krieg im Westen ist von der deutschen Heeresleitung dem 
Gegner aufgezwungen worden. Die Vorhand, die unfre 
Feinde sich in der Marneschlacht vermeintlich erkämpft 
batten, ist bei dem September-Oktoberringen um die West- 
flanke wieder auf die deutsche Führung übergegangen. 
Aber der Stellungskrieg entsprach in keiner Weise dem 
deutschen Angriffsgeist und der deutschen Heereterziehung. 
Um so größer ist das Verdienst unfrer Feldgrauen, die vier 
bittere Winter hindurch in meist verschlammten, oft ver- 
eisten, fast stets mit einem Höllenfeuer überschütteten Lauf- 
gräben ausgehalten haben. Sie haben die deutsche Waffen- 
ehre gerettet. 
Die französische Heeresleitung ist nach der Marneschlacht 
strategisch nicht über die japanischen Führerleistungen vor 
und bei Mukden hinausgewachsen. Sie hat sich durch ihr 
einseitiges Versteifen auf Umfassung des deutschen Weft- 
bzw. Nordflügels die Vorhand, die in der Marneschlacht 
ihr zugefallen war, schnell wieder entwinden lassen. Was 
von der Heeresleitung der Westmächte nach der Marne- 
schlacht bis zum Jahresschlusse 1914 geleistet wurde, war 
zunftmäßige Generalstabsarbeit. Sie hatte nichts an sich 
von dem Geiste neuzeitlichen Feldherrntums, welches das 
im Osten neuaufgegangene Feldberrngestirn 
Ludendorff in unerreichter Meisterung der Kriegomittel des 
20. Jahrhunderts auszustrahlen begann. Im Osten däm- 
merte, noch kaum erkennbar hinter düsterem Sorgengewölk, 
das Licht der Siegessonne für die Mittelmächte auf. Ein 
Hoffnungsstrahl verklärte den Schluß des furchtbar schweren 
Kriegsjahrec 1914. Auf seinen Schlachtfeldern war der 
größte Teil der Berufsoffiziere und -unteroffiziere in bei- 
spielloser Selbstaufopferung dahingesunken. An ihre Stelle 
traten in unerreichter Leisiungskraft aus allen Schichten 
des wehrhaftesten Volkes der Welt entstammende Reserve-, 
Landwehr= und Landsturmführer. Sie haben mit dem in 
Sellstzucht geheiligten deutschen Volksheer dann das Wunder 
erfüllt, das wir durchlebten. Sie haben 4 Jahre durch- 
gehalten gegen den Ansturm einer Welt von Feinden, bis 
dann das elende Geschlecht von 1918 ihnen in der Novem- 
berrevolution in den Nücken fiel. 
  
 
	        
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