Full text: Sachsen in großer Zeit. Band II. Die Kriegsjahre 1914 und 1915. (2)

Das Verhältnis der Mittelmächte gegen Rußland war 
nunmehr etwa 3 zu 4 bezüglich der Feldtruppen. 
Die Auodehnung der russischen Stellung vom Niemen 
über den Weichselbogen bis zum Dunajec und von da zurück- 
gebogen bis zur rumänischen Grenze betrug etwa 1200 Kilo- 
meter. Ein Dreimillionenheer auf einer solchen stark aus- 
gebauten Front durch einen Gesamtschlag zu vernichten, 
dafür bot die Kriegserfahrung bisher kein Vorbild. Das 
nächstliegende Beispiel war der deutscherseits unternom- 
mene Einkreisungsversuch auf dem Westkriegsschauplatze. 
Er hatte aufgegeben werden müssen. Der Einkreisungs- 
feldzug Moltkes gegen das kaiserliche französische Heer im 
Jahre 1870 hatte wohl zur Vernichtung des letzteren ge- 
führt. Di: Vorbedingungen waren aber gänzlich verschieden 
gewesen. Selbst der Russenfeldzug Napoleons I. im Jahre 
1812 bot mit seinen gegen die Jetztzeit recht beschei- 
denen Zahlenverhältnissen keinerlei geschichtlichen Anhalt. 
Damals standen 193 000 Russen in drei Armeen auf einer 
Front von 680 Kilometer, von Wilna bis Wolynien den 
zunächst 449 000 Mann der sogenannten „Großen Armee“ 
Napoleons gegenüber. Napoleon versuchte bekanntlich, die 
feindliche Front in Richtung auf Wilna zu durchbrechen, 
während seine Flankenkorps gegen Kurland und das olesie 
deckten. Der Durchbruch gelang, nicht aber die Vernich- 
tungsschlacht. Die Russen wichen stets rechtzeitig aus. Na- 
poleon verlor schon bei dem Vormarsch vom Niemen bis 
zur Drina, §o0 Meilen, in fünf Wochen mehr als ein Drittel 
seiner Mannschaftestärke. 3½ Monate nach Feldzugsbe- 
ginn waren von den 612000 Mann Napoleons, die tat- 
sächlich die russische Grenze überschritten haben, nur noch 
248000 Mann übrig und fünf Monate nach Feldzugs- 
anfang war das Massenaufgebot Napoleons von insgesamt 
685 000 Mann bis auf untaugliche Reste verbraucht. 
Kampffähig waren Ende 1812 nur noch die 66 O00 Preu- 
ben, Sachsen und Osterreicher der Napoleonischen Flanken- 
orps. 
Die Aufgabe, die Vernichtung des russischen Feldheeres, 
konnte restlos nur durch dessen Zusammendrängen nach 
irgendeinem Raume inmitten des gewaltigen Frontbogens, 
den das Russenheer besetzt hielt, erfüllt werden. Vernich- 
tungsschläge auf dem Wege dahin und als Abschluß ein 
Über-Tannenberg oder — fast noch währscheinlicher — ein 
Über-Sedan waren anzustreben, kaum aber bei der unend- 
lichen Weite des Raumes, bei dem den Russen zur Ver- 
fügung stehenden Bahnnetz und bei ihrer naturschlauen Ver- 
anlagung für den Rückzugskampf, zu erhoffen. So wurde 
denn von Anfang an der Hauptwert darauf gelegt, auf den 
einzelnen Abschnitten der deutschen und österreichisch-unga- 
rischen Front Vernichtungskämpfe herbeizuführen. Das ist 
in Galizien und Südpolen ebenso wie auf der Nordfront 
mehrfach gelungen und hat deren Gesamtergebnis schließ- 
lich tatsächlich das angestrebte Endergebnis, die Vernichtung 
des russischen Feldheeres, zum mindesten dessen völlige Zer- 
trümmerung, bis zum Herbst lols herbeigeführt. Wieder- 
holt schien es, ähnlich wie bei Hindenburgs Bekämpfung 
der Dampfwalze, so auch im Sommer 1915 während des 
gewaltigen Einkreisungskampfes, als wäre das Höchstziel, 
die völlige Einkreisung der russischen Gesamtmasse — die 
„Riesenzange“ war der im Kriege dafür geprägte Aus- 
druck — zwischen Weichsel und Bug, dann weiter östlich 
zu erreichen. 
Zunächst stand also der Entschluß der verbündeten Mittel- 
mächte zur Einkreisung des Russenheeres fest. Die nächste 
Frage war, wo war die Hauptkraft einzusetzen. Aus mili- 
tärischen, wirtschaftlichen und politischen Gründen mußte 
zunächst Galizien, das einzige Land der Mittelmächte, das 
die Russen noch im Besitz hatten, befreit werden. Die 
genial erschaute Stelle, wo dort die Zange anzusetzen war, 
bildete der Bruchpunkt der russischen Front am oberen 
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Dunajec bei Tarnow— Gorlice (Skizze 48). Oort führte 
der Durchbruch voraussichtlich zur Abschnürung der starken 
russischen Kräfte in den Waldkarpathen und Ostbeskiden 
und somit zur ersten Teileinkreisung. 
Das setzte aber voraus, daß es Hindenburg gelang, nicht 
nur jeden Versuch der Russen, ihn mit ihrer riesigen Uber- 
macht zu erdrücken, während die Hauptkräfte der Mittel- 
mächte in Galizien beschäftigt waren, abzuwehren, sondern 
auch seinerseits, sobald die Zeit dazu gekommen war 
(Mitte Juli), die Russen aus ihrer gewaltigen Festungs- 
front, die von Kowno bis zur Weichsel reichte, herauszu- 
werfen und allmählich nach dem Naume zwischen der 
Weichsel und dem Sumpfbecken ösilich des Bugs zurück- 
zudrängen. » 
Das war nur zu erreichen durch fortgesetzten Druck auf 
den rechten Flügel der Russen, der deren rechtzeitiges Aus- 
weichen ostwärts unmöglich machte. So entstand zunächst 
Hindenburgs Vorstoß in den nördlichen Teil des Gouver- 
nements Kowno und nach Kurland (Ende April 1915). 
Ihm folgte dann das umfassende Einschwenken gegen die 
russische Flanke Kowno—Wilna (vom Juni ab). Bald 
darauf machte sich die Deckung des deutschen Schwenkungs- 
flügels gegen russische Gegenstöße über Riga und Dünaburg 
notwendig. 
Dies war die Aufgabe der in Kurland allmählich an- 
gesammelten neuen Niemenarmee des Generals von Below. 
So war Mitte Juli die Ostfront der Mittelmächte auf 
looo km angewachsen (Skizze 48). Auf ihrer Südhälfte, 
der k. u. k. Heeresleitung unterstehend, bildete die Heeres- 
gruppe des Generalfeldmarschallo von Mackensen (deutsche 
11. und Bug-Armee, k. u. k. 4. Armee), Mitte Juli bio 
Südpolen in dem Raum zwischen dem oberen Bug und der 
oberen Weichsel auf ihrem Siegeslauf durch ganz Galizien 
vorgedrungen, das Herzstück. Rechts von ihr deckten 
drei k. u. k. Armeen und die deutsche Südarmee die Ost- 
flanke Machensens. Links von ihm, westlich der Weichsel 
vor Iwangorod, stellte die Armeeabteilung Woyrsch bis zur 
Milica die Verbindung mit der deutschen Heeresfront des 
Oberbefehlshabers Ost, des Generalfeldmarschalls von 
Hindenburg, her. Der Befehlsbereich Hindenburgs erstreckte 
sich von der Pilica bis zur kurischen Küste. Vor Warschau 
links der Weichsel stand die neunte Armee den Prinzen Leopold 
von Bayern. Rechts der Weichsel schloß die Armeegruppe 
Gallwitz bis zur Szkwa an gegenüber der russischen Narew- 
front. Dann folgte die deutsche achte Armee Scholtz gegen- 
über der russischen Bobrfront (Lomsha und Osowiech, endlich 
die zehnte Armee Eichhorn gegenüber der russischen Festungs- 
front am Niemen (Grodno—Olita—Kowno), links gedeckt 
durch die deutsche Niemen-Armee Belows in Kurland. 
Anfang Juli wurde der entscheidende Angriff mit dem 
Zirle der Zertrümmerung des russischen Gesamthe#res von 
den Mittelmächten vereinbart. Die Zeit drängte. Ende 
Mai war das treulose Italien in den Krieg eingetreten. Auf 
dem Westkriegsschauplatz drohte ein neuer, mächtiger An- 
sturm. Die Lage der Türkei und die Verhältnisse in den 
Balkanländern trieben zur Eile. So wurde für die Stoß- 
richtung die Kürze der Angriffslinien entscheidend, Mackensen 
von Süden nach Norden zwischen Bug und Weichsel, Hin- 
denburg über den unteren Narew auf Siedlee zu. 
Mackensen erhielt einige Verstärkungen. Hindenburg 
mußte sich die Kräfte für den Durchbruchsfeldzug aus 
seinem Befehlsbereich selbst zusammenstellen. 
Er verstärbkte die Armeegruppe Gallwitz um die gesamte 
schwere Artillerie und drei, später sogar vier Divisionen der 
neunten Armee, welche vor Warschau die Russen möglichst 
lange festzuhalten hatte. 
Die Armeegruppe Gallwitz sollte den Hauptstoß über 
den Narew unterhalb von Ostrolenka vorwärtstragen, 
links von ihr die achte Armee Scholtz mit verstärktem
	        
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