Das Verhältnis der Mittelmächte gegen Rußland war
nunmehr etwa 3 zu 4 bezüglich der Feldtruppen.
Die Auodehnung der russischen Stellung vom Niemen
über den Weichselbogen bis zum Dunajec und von da zurück-
gebogen bis zur rumänischen Grenze betrug etwa 1200 Kilo-
meter. Ein Dreimillionenheer auf einer solchen stark aus-
gebauten Front durch einen Gesamtschlag zu vernichten,
dafür bot die Kriegserfahrung bisher kein Vorbild. Das
nächstliegende Beispiel war der deutscherseits unternom-
mene Einkreisungsversuch auf dem Westkriegsschauplatze.
Er hatte aufgegeben werden müssen. Der Einkreisungs-
feldzug Moltkes gegen das kaiserliche französische Heer im
Jahre 1870 hatte wohl zur Vernichtung des letzteren ge-
führt. Di: Vorbedingungen waren aber gänzlich verschieden
gewesen. Selbst der Russenfeldzug Napoleons I. im Jahre
1812 bot mit seinen gegen die Jetztzeit recht beschei-
denen Zahlenverhältnissen keinerlei geschichtlichen Anhalt.
Damals standen 193 000 Russen in drei Armeen auf einer
Front von 680 Kilometer, von Wilna bis Wolynien den
zunächst 449 000 Mann der sogenannten „Großen Armee“
Napoleons gegenüber. Napoleon versuchte bekanntlich, die
feindliche Front in Richtung auf Wilna zu durchbrechen,
während seine Flankenkorps gegen Kurland und das olesie
deckten. Der Durchbruch gelang, nicht aber die Vernich-
tungsschlacht. Die Russen wichen stets rechtzeitig aus. Na-
poleon verlor schon bei dem Vormarsch vom Niemen bis
zur Drina, §o0 Meilen, in fünf Wochen mehr als ein Drittel
seiner Mannschaftestärke. 3½ Monate nach Feldzugsbe-
ginn waren von den 612000 Mann Napoleons, die tat-
sächlich die russische Grenze überschritten haben, nur noch
248000 Mann übrig und fünf Monate nach Feldzugs-
anfang war das Massenaufgebot Napoleons von insgesamt
685 000 Mann bis auf untaugliche Reste verbraucht.
Kampffähig waren Ende 1812 nur noch die 66 O00 Preu-
ben, Sachsen und Osterreicher der Napoleonischen Flanken-
orps.
Die Aufgabe, die Vernichtung des russischen Feldheeres,
konnte restlos nur durch dessen Zusammendrängen nach
irgendeinem Raume inmitten des gewaltigen Frontbogens,
den das Russenheer besetzt hielt, erfüllt werden. Vernich-
tungsschläge auf dem Wege dahin und als Abschluß ein
Über-Tannenberg oder — fast noch währscheinlicher — ein
Über-Sedan waren anzustreben, kaum aber bei der unend-
lichen Weite des Raumes, bei dem den Russen zur Ver-
fügung stehenden Bahnnetz und bei ihrer naturschlauen Ver-
anlagung für den Rückzugskampf, zu erhoffen. So wurde
denn von Anfang an der Hauptwert darauf gelegt, auf den
einzelnen Abschnitten der deutschen und österreichisch-unga-
rischen Front Vernichtungskämpfe herbeizuführen. Das ist
in Galizien und Südpolen ebenso wie auf der Nordfront
mehrfach gelungen und hat deren Gesamtergebnis schließ-
lich tatsächlich das angestrebte Endergebnis, die Vernichtung
des russischen Feldheeres, zum mindesten dessen völlige Zer-
trümmerung, bis zum Herbst lols herbeigeführt. Wieder-
holt schien es, ähnlich wie bei Hindenburgs Bekämpfung
der Dampfwalze, so auch im Sommer 1915 während des
gewaltigen Einkreisungskampfes, als wäre das Höchstziel,
die völlige Einkreisung der russischen Gesamtmasse — die
„Riesenzange“ war der im Kriege dafür geprägte Aus-
druck — zwischen Weichsel und Bug, dann weiter östlich
zu erreichen.
Zunächst stand also der Entschluß der verbündeten Mittel-
mächte zur Einkreisung des Russenheeres fest. Die nächste
Frage war, wo war die Hauptkraft einzusetzen. Aus mili-
tärischen, wirtschaftlichen und politischen Gründen mußte
zunächst Galizien, das einzige Land der Mittelmächte, das
die Russen noch im Besitz hatten, befreit werden. Die
genial erschaute Stelle, wo dort die Zange anzusetzen war,
bildete der Bruchpunkt der russischen Front am oberen
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Dunajec bei Tarnow— Gorlice (Skizze 48). Oort führte
der Durchbruch voraussichtlich zur Abschnürung der starken
russischen Kräfte in den Waldkarpathen und Ostbeskiden
und somit zur ersten Teileinkreisung.
Das setzte aber voraus, daß es Hindenburg gelang, nicht
nur jeden Versuch der Russen, ihn mit ihrer riesigen Uber-
macht zu erdrücken, während die Hauptkräfte der Mittel-
mächte in Galizien beschäftigt waren, abzuwehren, sondern
auch seinerseits, sobald die Zeit dazu gekommen war
(Mitte Juli), die Russen aus ihrer gewaltigen Festungs-
front, die von Kowno bis zur Weichsel reichte, herauszu-
werfen und allmählich nach dem Naume zwischen der
Weichsel und dem Sumpfbecken ösilich des Bugs zurück-
zudrängen. »
Das war nur zu erreichen durch fortgesetzten Druck auf
den rechten Flügel der Russen, der deren rechtzeitiges Aus-
weichen ostwärts unmöglich machte. So entstand zunächst
Hindenburgs Vorstoß in den nördlichen Teil des Gouver-
nements Kowno und nach Kurland (Ende April 1915).
Ihm folgte dann das umfassende Einschwenken gegen die
russische Flanke Kowno—Wilna (vom Juni ab). Bald
darauf machte sich die Deckung des deutschen Schwenkungs-
flügels gegen russische Gegenstöße über Riga und Dünaburg
notwendig.
Dies war die Aufgabe der in Kurland allmählich an-
gesammelten neuen Niemenarmee des Generals von Below.
So war Mitte Juli die Ostfront der Mittelmächte auf
looo km angewachsen (Skizze 48). Auf ihrer Südhälfte,
der k. u. k. Heeresleitung unterstehend, bildete die Heeres-
gruppe des Generalfeldmarschallo von Mackensen (deutsche
11. und Bug-Armee, k. u. k. 4. Armee), Mitte Juli bio
Südpolen in dem Raum zwischen dem oberen Bug und der
oberen Weichsel auf ihrem Siegeslauf durch ganz Galizien
vorgedrungen, das Herzstück. Rechts von ihr deckten
drei k. u. k. Armeen und die deutsche Südarmee die Ost-
flanke Machensens. Links von ihm, westlich der Weichsel
vor Iwangorod, stellte die Armeeabteilung Woyrsch bis zur
Milica die Verbindung mit der deutschen Heeresfront des
Oberbefehlshabers Ost, des Generalfeldmarschalls von
Hindenburg, her. Der Befehlsbereich Hindenburgs erstreckte
sich von der Pilica bis zur kurischen Küste. Vor Warschau
links der Weichsel stand die neunte Armee den Prinzen Leopold
von Bayern. Rechts der Weichsel schloß die Armeegruppe
Gallwitz bis zur Szkwa an gegenüber der russischen Narew-
front. Dann folgte die deutsche achte Armee Scholtz gegen-
über der russischen Bobrfront (Lomsha und Osowiech, endlich
die zehnte Armee Eichhorn gegenüber der russischen Festungs-
front am Niemen (Grodno—Olita—Kowno), links gedeckt
durch die deutsche Niemen-Armee Belows in Kurland.
Anfang Juli wurde der entscheidende Angriff mit dem
Zirle der Zertrümmerung des russischen Gesamthe#res von
den Mittelmächten vereinbart. Die Zeit drängte. Ende
Mai war das treulose Italien in den Krieg eingetreten. Auf
dem Westkriegsschauplatz drohte ein neuer, mächtiger An-
sturm. Die Lage der Türkei und die Verhältnisse in den
Balkanländern trieben zur Eile. So wurde für die Stoß-
richtung die Kürze der Angriffslinien entscheidend, Mackensen
von Süden nach Norden zwischen Bug und Weichsel, Hin-
denburg über den unteren Narew auf Siedlee zu.
Mackensen erhielt einige Verstärkungen. Hindenburg
mußte sich die Kräfte für den Durchbruchsfeldzug aus
seinem Befehlsbereich selbst zusammenstellen.
Er verstärbkte die Armeegruppe Gallwitz um die gesamte
schwere Artillerie und drei, später sogar vier Divisionen der
neunten Armee, welche vor Warschau die Russen möglichst
lange festzuhalten hatte.
Die Armeegruppe Gallwitz sollte den Hauptstoß über
den Narew unterhalb von Ostrolenka vorwärtstragen,
links von ihr die achte Armee Scholtz mit verstärktem