Full text: Sachsen in großer Zeit. Band II. Die Kriegsjahre 1914 und 1915. (2)

Die früher zu Hochzeitsfahrten benutzte Kutsche ist ge- 
radezu erschüttert, als wieder mal zwei Damen und zwei 
Herren in ihr Platz nehmen. Auch für sie eine Weihnachts- 
bescherung! Aber wir sind nicht daheim. Es ist „bloß“ der 
Pastor mit seinem „Terzett aus dem Lazarett“. Nach sei- 
nem Unterkunftsort geht's. Dort warten die Kameraden 
schon in der Kirche. Und im Hintergrund warten die fran- 
zösischen Mütter mit ihren Kindern, deren Stimmen so 
wie's daheim war mal in die Vorträge, Lieder und An- 
sprache hineinklingen. Ganz heimisch wird's und zumute 
durch die Gegenwart der Mütter und Kinder. Nun kommt 
die ersehnte Uberraschung: die Kinderbescherung. Im Mittel- 
gang der Kirche ist eine weißgedeckte Tafel aufgestellt 
mit etwa sechzig Plätzen, die belegt sind mit Juckerzeug, 
Schokoladentafeln (geschmückt mit deutschen Feldherrnbil- 
dern!), Trompeten für die Buben, Spiegeln für die Mädel. 
Spenden deutscher Offiziere und Mannschaften. Der deutsche 
aumön:er muß sich wie schon im ersten Kriegsjahr zu einer 
französischen Ansprache aufschwingen. Dann werden die 
Kinder von Ortspfarrer und Lehrer, welcher eine Dank- 
rede hält, an ihre 
Plätze gerufen 
und nun: 
„Draus“ — ganz 
wie daheiml Nicht 
falsche Gefühls- 
duselei, sondern 
christlich deutsches 
Empfinden für 
die unschuldigen 
Kinder der Fcin- 
de gaben den An- 
laß zur Besche- 
rung. Und vor 
allem der Grund: 
Für uns Deutsche 
gehören Kinder 
zur Wchihnachts- 
freude. Dort un- 
ter der romani- 
schen Pforte stand ein bärtiger deutscher Krieger, vier- 
facher Familienvater, ein Kind auf dem Arm wiegend; ein 
deutsches Heiligenbild, viel schöner als die in allen Kirchen 
hier wiederkehrende gepanzerte Jungfrau von Orleans mit 
Lanze und Schwert 
Am nächsten Tag ging ein Dankschreiben ein. In deut- 
scher Ubersetzung lautet dies Kulturdokument: 
Der Bürgermeister von Brienne fur Aisne an den Herrn 
Kommandanten der deutschen Kräfte in dieser Gemeinde. 
Herr Kommandant! 
In meiner Eigenschaft als Vertreter der Gemeinde und 
Dolmetscher der Wünsche der Bevölkerung, betrachte ich 
es als meine Pflicht, Ihnen sowie allen Ihren Mithelfern 
bei der Angelegenheit meinen lebhaften Dank auszusprechen 
für die Freude, die Sie unseren Kindern anläßlich des 
Weihnachtsfestes bereitet haben. 
Diese reizenden bleinen Geschenke, die so innig und 
geschmackvoll vorbereitet worden sind, waren ihnen sehr 
willkommen, indem sie ihnen neben den äußeren Freuden 
und mitten in den Unglücksfällen des Krieges etwas Glück 
gebracht haben, das ihre Familien mit teilen. 
Wenn es wahr ist, wie man in Frankreich sagt, daß 
die kleinen Geschenke die Freundschaft unterhalten, seien 
Sie überzeugt, Herr Kommandant, daß unsere Kinder 
Ihre Soldaten lieben, die sie immer mit Güte behandelt 
haben, und sogar mit Leckerbissen verwöhnt haben, an 
die sie nicht gewöhnt waren. 
    
Eine Grabgruppe vom Schützenfrierhof rei Berrieur surluch Laon 
393 
Diese menschenfreundliche Kundgebung, die Ihnen zur 
Ehre gereicht, wird anderseits die schöne Harmonie und 
die korrekten Beziehungen nur noch befestigen können, die 
immer seit der Besetzung zwischen den deutschen Behörden 
und meiner Verwaltung bestanden haben. 
In diesem Sinne bitte ich Sie, Herr Kommandant, die 
Versicherung meiner vorzüglichsten Hochachtung entgegen- 
nehmen zu wollen. 
Der Bürgermeister von Brienne sur Aisne. 
Danach Essen im Schloß beim Regimentsstab, dem ich 
angegliedert, und dann im Quartier, der Studierstube des 
Amtsbruders von der anderen Nation und Konfession, 
beim Schein eines Lichterbäumchens aus der Heimat, das 
schon ziemlich mitgenommen zum fünftenmal heimisches 
Weihnachtslicht ins fremde Quartier bringt, Bescherung 
mit den Liebesgaben für Küster, Burschen und die eigene 
Person. ·- 
Am ersten Feiertag früh heraus. Im landesüblichen 
zweiräderigen Wagen (Dogcart) zu Gottesdiensten in den 
Dofkichen Poil- 
court und Vicux- 
les Asfeld, in 
letzterer auch Be- 
scherung der Kin- 
der. Zum Dank 
singen sie mit den 
Erwachsenen das 
berühmte Weih- 
nachtslied von 
Adam: Alinuit 
chrétien! O 
hehre Nacht, o 
beilige Gnaden- 
stunde, da Gottes 
Sohn zu uns her- 
niederkam! Sie 
lönnen es nicht 
ohne Ablesen. 
Dann preisen wir 
die Heilige Nacht im Lied, das wir auswendig können. Auch 
darin zeigen wir uns überlegen dank der Erziehung von 
Kirche, Schule und Haus. 
Nachmittags beginnt die Fahrt nach den rückwärtigen Or- 
ten der Kolonnen, die ihre eigenen Wagen stellen. Drei 
Gottesdienste folgen noch. Einmal sind gleich zwei Dogcarts 
zum Abholen von Pfarrer und Küster, der zugleich Orga- 
nist, vorgefahren. Ein Kamerad bemerkt scherzhaft: „Bald 
wie vorm Hauptbahnhofe!“ 
Am zweiten Feiertag geht's wieder nach vorn. Erst nach 
den Kirchen Pignicourt, Pont Givart und Orainvllle, in 
der ein anschauliches Glasblld im Fenster zeigt, wie Chlod- 
wig aus dem altchristlichen Taufbad steigt, gesegnet vom 
Bischof Regimius: „Beuge de'n Haupt, stolzer Sigambrer! 
Bete an, was du bisher verbrannt hast und verbrenne, was 
du angebetet!“ 
Einen Weihnachtsgruß auch den gefallenen Brüdern, 
die hier einen schönen Friedhof haben. Irgendwo in dieser 
Gegend ist auch Hermann Löns, der Dichter von Wald 
und Heide, gefallen und begraben. 
Aus dem Sitzkasten des Dogcart den Sattel! Das 
Kutschpferd wird zum Reitpferd, und in Begleitung eines 
berittenen Burschen geht's durch Wald und Feld zu unserer 
Artillerie, die kurz vorher unter Fliegerbeobachtung be- 
schossen wurde. Abgesessen! Pferd mit Burschen zurückl! 
Kurze Feldandacht an den Geschützen und dann beim Her- 
einbrechen der Dämmerung nach dem Bahndamm, wo 
Infanterie in Bereitschaft liegt. Am Tage war hier keine 
Versammlung möglich. Hier hatten wir schon vor acht
	        
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