Die früher zu Hochzeitsfahrten benutzte Kutsche ist ge-
radezu erschüttert, als wieder mal zwei Damen und zwei
Herren in ihr Platz nehmen. Auch für sie eine Weihnachts-
bescherung! Aber wir sind nicht daheim. Es ist „bloß“ der
Pastor mit seinem „Terzett aus dem Lazarett“. Nach sei-
nem Unterkunftsort geht's. Dort warten die Kameraden
schon in der Kirche. Und im Hintergrund warten die fran-
zösischen Mütter mit ihren Kindern, deren Stimmen so
wie's daheim war mal in die Vorträge, Lieder und An-
sprache hineinklingen. Ganz heimisch wird's und zumute
durch die Gegenwart der Mütter und Kinder. Nun kommt
die ersehnte Uberraschung: die Kinderbescherung. Im Mittel-
gang der Kirche ist eine weißgedeckte Tafel aufgestellt
mit etwa sechzig Plätzen, die belegt sind mit Juckerzeug,
Schokoladentafeln (geschmückt mit deutschen Feldherrnbil-
dern!), Trompeten für die Buben, Spiegeln für die Mädel.
Spenden deutscher Offiziere und Mannschaften. Der deutsche
aumön:er muß sich wie schon im ersten Kriegsjahr zu einer
französischen Ansprache aufschwingen. Dann werden die
Kinder von Ortspfarrer und Lehrer, welcher eine Dank-
rede hält, an ihre
Plätze gerufen
und nun:
„Draus“ — ganz
wie daheiml Nicht
falsche Gefühls-
duselei, sondern
christlich deutsches
Empfinden für
die unschuldigen
Kinder der Fcin-
de gaben den An-
laß zur Besche-
rung. Und vor
allem der Grund:
Für uns Deutsche
gehören Kinder
zur Wchihnachts-
freude. Dort un-
ter der romani-
schen Pforte stand ein bärtiger deutscher Krieger, vier-
facher Familienvater, ein Kind auf dem Arm wiegend; ein
deutsches Heiligenbild, viel schöner als die in allen Kirchen
hier wiederkehrende gepanzerte Jungfrau von Orleans mit
Lanze und Schwert
Am nächsten Tag ging ein Dankschreiben ein. In deut-
scher Ubersetzung lautet dies Kulturdokument:
Der Bürgermeister von Brienne fur Aisne an den Herrn
Kommandanten der deutschen Kräfte in dieser Gemeinde.
Herr Kommandant!
In meiner Eigenschaft als Vertreter der Gemeinde und
Dolmetscher der Wünsche der Bevölkerung, betrachte ich
es als meine Pflicht, Ihnen sowie allen Ihren Mithelfern
bei der Angelegenheit meinen lebhaften Dank auszusprechen
für die Freude, die Sie unseren Kindern anläßlich des
Weihnachtsfestes bereitet haben.
Diese reizenden bleinen Geschenke, die so innig und
geschmackvoll vorbereitet worden sind, waren ihnen sehr
willkommen, indem sie ihnen neben den äußeren Freuden
und mitten in den Unglücksfällen des Krieges etwas Glück
gebracht haben, das ihre Familien mit teilen.
Wenn es wahr ist, wie man in Frankreich sagt, daß
die kleinen Geschenke die Freundschaft unterhalten, seien
Sie überzeugt, Herr Kommandant, daß unsere Kinder
Ihre Soldaten lieben, die sie immer mit Güte behandelt
haben, und sogar mit Leckerbissen verwöhnt haben, an
die sie nicht gewöhnt waren.
Eine Grabgruppe vom Schützenfrierhof rei Berrieur surluch Laon
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Diese menschenfreundliche Kundgebung, die Ihnen zur
Ehre gereicht, wird anderseits die schöne Harmonie und
die korrekten Beziehungen nur noch befestigen können, die
immer seit der Besetzung zwischen den deutschen Behörden
und meiner Verwaltung bestanden haben.
In diesem Sinne bitte ich Sie, Herr Kommandant, die
Versicherung meiner vorzüglichsten Hochachtung entgegen-
nehmen zu wollen.
Der Bürgermeister von Brienne sur Aisne.
Danach Essen im Schloß beim Regimentsstab, dem ich
angegliedert, und dann im Quartier, der Studierstube des
Amtsbruders von der anderen Nation und Konfession,
beim Schein eines Lichterbäumchens aus der Heimat, das
schon ziemlich mitgenommen zum fünftenmal heimisches
Weihnachtslicht ins fremde Quartier bringt, Bescherung
mit den Liebesgaben für Küster, Burschen und die eigene
Person. ·-
Am ersten Feiertag früh heraus. Im landesüblichen
zweiräderigen Wagen (Dogcart) zu Gottesdiensten in den
Dofkichen Poil-
court und Vicux-
les Asfeld, in
letzterer auch Be-
scherung der Kin-
der. Zum Dank
singen sie mit den
Erwachsenen das
berühmte Weih-
nachtslied von
Adam: Alinuit
chrétien! O
hehre Nacht, o
beilige Gnaden-
stunde, da Gottes
Sohn zu uns her-
niederkam! Sie
lönnen es nicht
ohne Ablesen.
Dann preisen wir
die Heilige Nacht im Lied, das wir auswendig können. Auch
darin zeigen wir uns überlegen dank der Erziehung von
Kirche, Schule und Haus.
Nachmittags beginnt die Fahrt nach den rückwärtigen Or-
ten der Kolonnen, die ihre eigenen Wagen stellen. Drei
Gottesdienste folgen noch. Einmal sind gleich zwei Dogcarts
zum Abholen von Pfarrer und Küster, der zugleich Orga-
nist, vorgefahren. Ein Kamerad bemerkt scherzhaft: „Bald
wie vorm Hauptbahnhofe!“
Am zweiten Feiertag geht's wieder nach vorn. Erst nach
den Kirchen Pignicourt, Pont Givart und Orainvllle, in
der ein anschauliches Glasblld im Fenster zeigt, wie Chlod-
wig aus dem altchristlichen Taufbad steigt, gesegnet vom
Bischof Regimius: „Beuge de'n Haupt, stolzer Sigambrer!
Bete an, was du bisher verbrannt hast und verbrenne, was
du angebetet!“
Einen Weihnachtsgruß auch den gefallenen Brüdern,
die hier einen schönen Friedhof haben. Irgendwo in dieser
Gegend ist auch Hermann Löns, der Dichter von Wald
und Heide, gefallen und begraben.
Aus dem Sitzkasten des Dogcart den Sattel! Das
Kutschpferd wird zum Reitpferd, und in Begleitung eines
berittenen Burschen geht's durch Wald und Feld zu unserer
Artillerie, die kurz vorher unter Fliegerbeobachtung be-
schossen wurde. Abgesessen! Pferd mit Burschen zurückl!
Kurze Feldandacht an den Geschützen und dann beim Her-
einbrechen der Dämmerung nach dem Bahndamm, wo
Infanterie in Bereitschaft liegt. Am Tage war hier keine
Versammlung möglich. Hier hatten wir schon vor acht