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zu uns herüber und nun beginnen sie auch hie und da aus
den Häusern zu schießen, aus Bodenluken und Kellerfen-
stern. Als ich mit meinen Leuten in die erste Querstraße
einbiege und zurückblicke, sehe ich, daß wir nicht mehr
allein sind: die anderen Züge der Kompagnie sind uns
nachgeeilt; die Straße herab kommen auch schon die übrigen
Kompagnien. Aus der halbgeöffneten Tür eines Kolo-
nialwarenladens sehe ich einen Mann lugen. Rasch springe
ich hinzu. Zwei Kameraden folgen mir, und wir nehmen
zwei Zivilisten fest; sie sind mit Pistolen bewaffnet. Zau-
dernd kommt eine Frau die Treppe herab. Ich lasse die
Festgenommenen zum Adjutanten bringen. Auf Befehl des
Majors wird kurzer Prozeß mit den beiden gemacht —
eine schreckliche Szene, aber es muß sein! Die Frau wird
abgeführt. Aus der Apotheke bringen sie etwa 15 Men-
schen, darunter einen Curé. Ich sehe nur eine Menge
wedelnder Hände über den Köpfen unserer Soldaten. Ein
Belgier mit der Noten-Kreuz-Binde am Arm ist beim Schie-
Ken ertappt worden, er versucht zu fliehen, aber er kommt
nicht weit. Feindliche Soldaten bekommen wir überhaupt
nicht zu sehen, nur dieses heimtückische Franktireurgesindel.
Wir stehen nun auf der Hauptstraße von Dinant, die pa-
rallel zur Maas und durch eine Häuserzeile von ihr ge-
trennt, auf den Marktplatz führt, an dem sich die schöne,
alte Kirche mit dem Zwiebelturm erhebt und auf den die
große, steinerne Brücke mündet. Hier sind wir nun wahr-
haftig im Hexenkessel — beinahe zwei Stunden! Vom
jenseitigen Ufer prasseln die Gewehre, bald mischen sich auch
Maschinengewehre ein.
Wo sich zum Uferkai kleine Gäßchen öffnen, ist nur
schwer vorbeizukommen; fortgesetzt peitschen hier Geschosse
heran. Bald beginnt auch die feindliche Artillerie unseren
Stadtteil mit Schrapnells und Granaten zu belegen. Hie
und da fangen die Häuser zu brennen an. Wrr suchen die
Fenster nach dem Kai zu zu besetzen und von dort aus den
Feind, der hinter Uferbarrikaden sitzt, zu befeuern. Wir
erbrechen die verrammelten Häuser und stürmen durch die
JZimmer nach der Flußseite und in die oberen Geschosse.
Die Fenster nach der Maas zu sind alle verschlossen. Wir
sehen bald, daß dies eine Falle ist. Denn sobald einer
von uns die Jalousie hochzieht, bemerkt das drüben der
Feind. Gewehrsalven prasseln und Maschinengewehre rat-
tern auf das Fenster zu. Auf diese Weise haben wir bald
schwere Verluste. Wir können uns nur dadurch helfen,
daß wir Möbelbarrikaden an die Fenster schieben, dann
öffnen und auf die Gegner feuern. Aber damit wird nicht
viel erreicht! Ich setze so ein paar Gruppen in den Häu-
sern ein, stöbere durch die verschiedensten Laden und Zim-
mer und eile dann wieder auf die Straße. Hier herrscht
ein fürchterliches Gewühl; fast unser ganzes Bataillon
drängt sich auf dieser kaum 300 m langen Straße zusam-
men. Uberall brennt es schon. Jetzt beginnt auch unsere
eigene Artillerie in die Stadt zu schießen. Vermutet sie,
daß wir schon wieder heraus sind? Oben am Kirchturm
bewegen und öffnen sich plötzlich die Luken, und er scheint
ebenfalls vom Feind besetzt zu sein. Der Offiziersstellver-
treter meines Zuges wird schwer verwundet. Unser Major
fällt. Er war am selben Tage zum Oberstleutnant be-
fördert worden, ohne es noch erfahren zu haben.
Dichte Rauchschwaden wälzen sich durch die Straßen;
überall knistert das dürre Holpverk. Ich arbeite mich durch
bis zur Kirche, wo der Markt sich öffnet. Wir haben
ja eigentlich Befehl, den Maasübergang zu versuchen. Die
Brücke scheint noch passierbar. Der große Markt mit seinen
Konditoreien und Hotels, vor denen zierliche Lorbeerbäume
und Efeuhecken mit kleinen Marmortischen stehen, liegt
still und menschenleer.“
Hauptmann Fabian versucht mit Freiwilligen der 12.
Kompagnie die Brückensperre in schnellem Anlauf zu stür-
men. Vergebens opfern sich die Tapferen. Auch der Ver-
such kühner Pioniertrupps, die Sprengladung am mitt-
leren Brückenpfeiler zu entfernen, führt nicht zum
Erfolg. Die Stärke der feindlichen Stellung jenseits der
Brücke erfordert längere Vorarbeit durch die schwere Ar-
tillerte. Juvor muß aber der bereits eroberte Stadtteil
diesseits der Maas vorübergehend wieder geräumt wer-
den, zur Vermeidung unnötiger Verluste dureh das eigene
Artilleriefeuer.
Das gelingt bis gegen 2 Uhr nachmittags den Regi-
mentskommandeuren der Schützen, Oberst Graf Vitzthum
von Eckstädt, und des Infanterieregiments 182, Oberst
Francke, welche mitten unter ihren im Ortskampf verstrickten
Kompagnien weilen. Durch die Gluthitze der brennenden
Häuser, zwischen herabstürzenden Balken, vorbei an zahl-
reichen Opfern des wütenden erbarmungslosen Ortskampfes
gewinnen die Schützen und die 182er den Ostrand von
Dinant. Dort hält an der Straße der Kommandierende
General des Xll. Armeekorps, General der Infanterie d'Elsa
mit den sächsischen Prinzen und ruft den vorüberziehenden
Schützen zuversichtlich zu: „Hinüber kommen wir doch!“
Schon hat inzwischen das Feuer der schweren Artillerie
gegen die linksufrige Brückenvorstadt von Dinant begonnen.
Es wirkt furchtbar. Auch ist gegen 2,45 Uhr nachmittags
den sächsischen schweren Batterien gelungen, die verdeckt
bei Wespin aufgestellte feindliche Artillerie zum Schweigen
zu bringen.
Der Maagsübergang bei Les Rivages
Bei der linken Nachbarbrigade, der 45. Infanterie-
brigade unter General Lucius hatte inzwischen das Vordringen
gegen den Südteil von Dinant und gegen den durch den
Bayardfelsen von Dinant getrennten reichen Villenvorort Les
Rivages, zu schwerem Ortökampfe geführt. Auch hier spielte
sich die Kampfhandlung als wildes Ringen zwischen bren-
nenden Häusern ab, in welches der Feind vom jenseitigen
Ufer her unablässig hineinschoß.
Das I. Bataillon des Leibgrenadierregiments 100
unter Oberstleutnant Graf von Kielmannsegg drang schon
6,25 Uhr vormittags links von den 182ern entlang des
Weges von Herbuchenne nach dem Südrande von Dinant
in dessen Südvorstadt ein. Seinem Vortrupp, der Leib-
kompagnie unter Hauptmann Legler, schlug schon aus den
ersten Häusern starkes Feuer entgegen. Hauptmann Legler,
seinen Leibgrenadieren weit voraus, wurde verwundet, un-
widerstehlich drangen seine Grenadiere ihm nach. Die Ver-
luste wuchsen rasch, als auch die anderen Kompagnien des
I. Bataillons durch Schrunden und Steige den Felshang
bis zu den Stadthäusern herabkletterten. Dabei wurde
Hauptmann von Nabenhorst, der Führer der 4. Kompagnie
tödlich getroffen.
Nach und nach wurde das ganze Regiment in den zeit-
und kraftraubenden Ortskampf und das Feuergefecht mit
dem Feinde, der jenseits des Wassers den Villenort Neffe
besetzt hielt, verwickelt. Die Häuser von Neffe säumen
in ununterbrochener Reihe das Westufer von der Brücke
von Dinant bis gegenüber dem Bayardfelsen ein.
Hier waren besonders viel französische Maschinengewehre
tätig. Es gelang in dem stundenlangen Feuerkampf nicht,
die sehr gut versteckten französischen Maschinengewehre ganz
unschädlich zu machen. Als am Nachmittag endlich das
feindliche Feuer jenseits des Flusses fast niedergekämpft
schien, wurde auf Befehl der 23. Infanteriedioision ver-
sucht, die Pontons des Divisionsbrückentrains 23 auf dem
Steilpfad, der von Herbuchenne in die Südvorstadt von
Dinant hinabführt, an die Maas vorwärts zu bringen. Die
acht Pontons mußten Lom Schlosse von Herbuchenne, wo
bereits feindliches Schrapnellfeuer einsetzte, bis an die Maas