Ferdinand Goetz wurde am 24. Mai 1826 in Leipzig
geboren. Er besuchte die Thomasschule und hat hier schon
als Knabe geturnt. Später schloß er sich dem Allgemeinen
Turnverein in Leipzig an. Er studierte Medizin und war
eifriger Burschenschaftler. Doch wurde das Studium jäh
unterbrochen durch die Freiheitsbewegung von 18348. Wie
viele der Besten beteiligte auch er sich an den Kämpfen
für Deutschlands Einheit und Freiheit. Rückblickend mag
er dann selbst erkannt haben, daß der Aufruhr nicht der
rechte Weg war, beides zu erlangen. Er war es, der 1861
unter schweren Kämpfen den Grundsatz für die Deutsche
Turnerschaft durchsetzte, der sie auf die rechte Bahn führte
und den Keim ihrer gewaltigen Entwicklung legte: Das
Turnen ist nur Mittel zu dem Zweck, dem Vaterlande
ganze, tüchtige Männer zu erziehen; jedwede politische
Parteistellung jeboch muß den Turnpvereinen als solchen
fernbleiben. Die Bildung eines blaren politischen Urteils ist
Sache und Pfflicht des einzelnen Turners. Zunächst hatte
er aber die Folgen seiner Beteiligung am Aufruhr zu
tragen. Er saß im Gefängnis, doch nur kurze Zeit, da
er als Arzt im Lazarett tätig gewesen war. 1853 konnte
er sich mit seiner mecklenburgischen Braut Minna Dorn-
blüh vermählen und 1855 in Lindenau bei Leipzig als
praktischer Arzt niederlassen. Dem Turnen blieb er treu,
und bald trat er stärker in der Turnerei hervor. Acht
Jahre war er Schriftleiter der Deutschen Turnzeitung.
18360 war er tätig für die „Sammlung“ der deutschen
Turnvereine. Ein erster ständiger Auoschuß wurde eins
gesetzt. Goetz wurde der Geschäftsführer. Er blieb es
15 Jahre lang, bis er 1895 zum Vorsitzenden der Deut-
schen Turnerschaft ernannt wurde, ein Amt, das er bis
zu seinem Tode verwaltete.
nichts anderes als die Geschichte der Entwicklung des
deutschen Turnens. Es ist die Periode vom 1. Turnfest
1363 in Koburg zum zweiten Leipziger 1913. Bei jenem
war die Turnerschaft durch 1000 Mann, bei diesem durch
mehr als 70 00o Mann vertreten. In diesen zwei Zif-
fern zeigt sich Goetzens Lebensarbeit. In seinem Beruf
brachte eo der Dr. med. Goetz zum Geheimen Sanitäts-
rat. Am 13. Oktober lols verschied er #m Alter von
90 Jahren. Bis kurz vor seinem Heimgang hatte er sich
in seine hohen Jahre geistige Frische und körperliche Rüstig-
keit bewahrt. Wenn er es neben einem vernünftigen,
mäßigen Leben der Turnerei zuschrieb, so dürfen wir den
Worten eines solchen Mannes wohl glauben. In Leipzig
gaben Sonderblätter in den Straßen Kunde von seinem
Tode, als ob es sich um das Hinscheiden eines Fürsten
gehandelt hätte, und wie ein Fürst wurde er auch be-
graben, so sagte ein Zeitungobericht. Uber 100 Fahnen
folgten seinem Sarge. Goetz war von so hervorragender Be-
deutung für das Volksleben gewesen, daß ihm im Land-
tage ein Nachruf gewidmet wurde. Se. Exz. der Kultus-
minister Dr. Beck sagte: „Es ist mir ein Bedürfnis, des
vor wenigen Wochen heimgegangenen „Turnvaters“, des
Geheimrats Goetz, zu gedenken, der mehr als ein halbes
Jahrhundert an der Spitze der deutschen Turnerschaft ge-
standen und den Gedanken gepflegt hat, daß die Turner-
schaft, frei von allen Unterschieben politischer, konfessio-
neller und sozialer Art, eine einheitliche Volksgemeinschaft
darstellen soll. Wie das Kultusministerium den hochver-
dienten Mann durch Entsendung einer Abordnung zu den
Beisetzungsfeierlichkeiten geehrt hat, so wird es stets sein
Vermächtnis hochhalten.
Goetz war nicht nur bedeutend als Organisator, er wußte
auch das Wort wuchtig zu gebrauchen und die Feder ge-
schickt zu führen. So verdient vor allem ein Leitspruch
der Nachwelt erhalten zu werden, der den Erfolg seines
arbeitsreichen Lebens erklärt und den er fein in Worte
gefaßt hat:
420
Dein größten Glück, du Menschenkind,
O glaub es doch mitnichten,
Daß ee erfüllte Wünsche sind,
Es sind erfüllte Pflichten.
Der Arbeiter-Turnerbund, Kreis IV: Sachsen
Neben der Deutschen Turnerschaft hatte sich seit 1892
eine sozialdemokratische Vereinigung von Turnern, der
Arbeiterturnerbund, zu ansehnlicher Stärke entwickelt. Auch
hier war Sachsen, der IV. seiner vierzehn Kreise, der stärkste.
Schon der nächste dieser Kreise hatte nicht die Hälfte der
sächsischen Zahl. Auch hier pflegte man mit Eifer und
Erfolg die Leibesübung und die körperliche Ertüchtigung
vor allem der Jugendlichen. Vielleicht hielt man diese
Spaltung im Partelinteresse für nötig, im übrigen war sie
So ist Goetzens Leben sz
Der 87 jährige Vater Goetz mit seiner Frau in seinem Garten zu
eipzig-Lindenau
unangebracht. Wenn schon in der Politik wirblich Par-
teien sein müssen, in der Leibesübung sind sie über-
flüssig wie die konfessionellen Vereinigungen für körper-
liche Ertüchtigung, die in einigen Gegenden Deutschlands
entstanden sind, glücklicherweise nicht auch in Sachsen.
Vermutlich sieht eine katholische oder sozialdemokra-
tische Kniewelle nicht anders aus, wie eine solche in
der Deutschen Turnerschaft. Im übrigen muß die Tatig-
keit und der Erfolg des Arbeiterturnerbundes anerkannt
werden.
Wie zu Kriegsbeginn die Sozialdemokratie sich auf die
Seite des Vaterlandes stellte, so zogen auch die freien
Turner, wie sie sich ehemals nannten, begeistert ins Feld.
Man zählte ihrer zu Anfang 1917 150 000. Bereits Ende
1914 hatten 2000 Mitglieder, Anfang 1916 6000 ihr
Leben zum Opfer gebracht. Um diese Zeit trugen 23 aus den
RNeihen des Arbeiterturnerbundes das Eiserne Kreuz
1. Klasse. Noch stärker alo in der Deutschen Turnerschaft
hat der Turnbetrieb und Vereinsbestand durch den Krieg
gelitten. Er ist in Sachsen von 451 Vereinen bis An-
fang 1916 auf 223, von 47000 Mitgliedern auf 18 600
gefallen.
Die Jugend des Arbeiterturnerbundes ist auch zur amt-
lichen Liste der Wehrvorbereitung gemeldet. Schulturn-
ballen und -Hlätze sind den Jungmannen nunmehr wie der
Deutschen Turnerschaft zur Verfügung gestellt. Sie ge-
nießen freie Fahrt auf der Eisenbahn bei Vereinsfahrten.
Die sozialdemokratische Jugendpflege bezieht auf ihr Ge-
such hin Unterstützung aus den ausgeworfenen Staats-