Full text: Sachsen in großer Zeit. Band II. Die Kriegsjahre 1914 und 1915. (2)

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mitteln. Aber bei den vom Ministerium angeordneten 
Wettkämpfen haben sich die Arbeiterturnvereine ausge- 
schlossen. Hingegen haben sie im Anschluß an eine Bundes- 
turnfahrt im Juli 1917 eigene Wettkämpfe abgehalten. 
Das tägliche Zehnminutenturnen 
Man hatte schon früher erkannt, daß tägliche Ubung 
selbst bei kurzer Dauer von größter Wirkung sind. Das 
hatte auf die Zimmergymnastik geführt, die in der Mitte 
deo vorigen Jahrhunderts besondere Anregung durch säch- 
sische Fachmänner erhalten hatte. Der Direktor der Kgl. 
Turnlehrerbildungoanstalt Dr. Kloß hatte ein Hand- 
büchlein“, Dr. Schreber in Leipzig seine berühmte „Arztliche 
Zimmergymnastik“ herausgegeben. Aber die Zimmergym= 
nastik ist eine langweilige Sache, und die Neigung dafür 
war ziemlich eingeschlafen, bio das System des Dänen 
Müller neue Begeisterung dafür erweckte. Alles „müllerte“ 
und ließ es ebenso rasch wieder liegen. Da war es 
der Dresdner S#ul- 
dircktor Moritz K. ö-- 
fel, derdi Grundsätze 
des Zimmerturnens 
zuerst in die öffent- 
liche Schule aufnahm 
als sogenanntes 
Zehnminuten- 
turnen. Es fand vicl- 
fach Nachahmung, in 
den höheren Schulen 
zuerst in der Annen- 
schule zu Dresden. 
Als hier wie überall 
die nötige Unter- 
stützung durch die ge- 
samte Lehrerschaft 
nachlich, wurde cs 
aufgegeben. 
Da wurde die 
an sich gute Sache 
durch den Erlaß 
der Ministerien aufs 
neue erweckt und 
bildet einen wichti- 
gen Teil der Wehrübung, einen Gewinn der großen Zeit. 
Das Klingelzeichen beendet die dritte Unterrichtsstunde. 
Sofort verlassen die Schüler die Klassen und strömen auf 
den Schulhof. Jeder nimmt seinen bestimmten Platz ein, 
der durch die Meterzahlen an den Umfassungsmauern des 
Platzes bestimmt ist. Jeder hat 2 qm freien NRaum, doch 
sind die Turner so zwischeneinander gestellt, daß sie sich 
bei keiner Ubung berühren. Auf erhöhtem Platz steht 
ein Vorturner und der Ubungsleiter, der durch ein Glocken- 
zeichen das „Stillgestanden“ verkündet. Auch die Lehrer 
haben sich einen freien Platz gesucht und beteiligen sich 
beim Turnen. Zwar haben die Schüler geschaut, als selbst 
die älteren Herren mitturnten. Numpf= und Kniebeuge 
und ähnliches, mancher Junge hat auch zuerst einmal dar- 
über gelächelt, aber man hat sich schnell daran gewöhnt 
und das Beispiel der alten Herren redet deutlicher von der 
Notwendigkeit der Ubung als viele Worte. 
Jede Ubung ist auf ihre Wirkung ausgewählt und da- 
nach ihre Bezeichnung: Armübung — Brustübung — 
Nückenübung — Flankenübung — Gleichgewichtsübung 
— Rumpfübung — Bauchmassage — Beinübung. Es 
sind im allgemeinen immer die gleichen Bewegungen, die 
man schon auswendig weiß. Nur manchmal wird zur Prü- 
fung der Aufmerksamkeit eine abgeänderte Form einge- 
fügt. Bel jeder Ubung ist die Atemführung genau bestimmt, 
der Hauptwert der Ubung liegt ja in der tiefen Atmung. 
Zehnminutenturnen 
  
: Gehen im Schulhofe 
Man hat erstaunliche Beweise ihrer Wirkung auf die Er- 
weiterung des Brustborbes. 
Nach lo Minuten sind alle Ubungen durchgeturnt, jede 
erst zweimal nach Zuruf, dann viermal taktmäßig. Mit 
Ablauf der 20-Minutenpause kann der Unterricht in den 
Klassen pünktlich begonnen werden. 
Bei kühlem Wetter tritt an Stelle der genannten Ubungen 
Marschieren oder ein Dauerlauf von etwa So0 m. 
Jahrelange Erfahrungen haben gezeigt, daß sich das 
Zehnminutenturnen regelmäßig und gut, wie oben ge- 
schildert, durchführen läßt. Freilich isi's nicht überall so. 
Die Dauer des Kriegs hat vielerorts eine Müdigkeit und ein 
Nachlassen hervorgerufen, die eigentlich nicht begründet 
und nicht zu rechtfertigen sind. 
Wandern als Wehrvorbereitung 
Mit Kriegsausbruch schien das alte Wandern, das man 
erklärt hat als Gehen auf eigenen Füßen, Sehen mit 
cigenen Augen, Ler- 
nen aus eigener An- 
schauung, ganz ver- 
drängt. 
Laß marschieren! 
Laß marschieren! 
hich es nach dem 
alten Liede. Märsche 
ersezten die Wan- 
derung. Ohne die 
gute Wirkung des 
Marschierens zu 
leugnen, erkannte 
man in Sachsen zu- 
erst wieder, woelche 
Werte für die Wehr- 
vorbereitung man 
mit der freien, mehr- 
tägigen Wanderung 
aufgab, und mahnte 
aufs neue zu wan- 
dern. 
Und wieschön war 
unser Vaterland! Ge- 
rade in jenen Au- 
gusttagen, in denen die Feinde gegen Deutschlands Gren- 
zen heranstürmten, lag es unter leuchtend blauem Himmel 
und klarem Sonnenschein im Erntegold der Ahrenfelder. 
Niemals war es so schön gewesen und nie sein Volk so 
einig, so treu, aufopferungsvoll und mutig. Man mußte 
es bewundern und lieben, wenn draußen auf allen Wegen 
bunte Tücher die Eisenbahnzüge grüßten, die unsere Feld- 
grauen nach Osten und Westen führten. ÜUber dieses Volk, 
auf dieses blühende Land wollten die Feinde herfallen, 
die Russen wollten ihre asiatischen, die Franzosen und 
Engländer ihre afrikanischen Horden darauf loslassen! Das 
durfte nicht sein, das konnte ein guter Gott nicht zugeben! 
Glühende Vaterlandsliebe und festes Gottvertrauen füll- 
ten damals alle Herzen, am tiefsten bewegten sie das Herz 
des jungen Wanderers, der sein Land und sein Volk besser 
kennen gelernt hatte als der Stubenhocker und Prome- 
nadenspaziergänger. Wenn Vaterlandsliebe die Grundlage 
aller Wehrübung ist, dann muß fleißiges Wandern das 
erste Erziehungsmittel für den jungen Wehrmann sein. Die 
Jugendwanderer sind denn auch zahlreich ins Feld ge- 
zogen, und zwar als Freiwillige. Ihre Zahl läßt sich 
schätzen nach den Totenlisten, die die Wandervereinigungen 
veröffentlicht haben. 
Die meisten dieser Toten sind der tückischen Kugel zum 
Opfer gefallen. An die Anstrengungen und Unregelmäßig- 
keiten des Kriegslebens, die so viele dahinrafften, waren die
	        
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