Full text: Sachsen in großer Zeit. Band II. Die Kriegsjahre 1914 und 1915. (2)

namentlich die Angehörigen des Handwerkerstandes, über- 
haupt alle, deren Stellung bei aller Bescheidenheit eine 
selbständige ist, werden die Rechenfertigkeit an Aufgaben 
des praktischen Lebens üben. 
Durch den Krieg ist gar manchem deutschen Staats- 
bürger erst der Begriff von den Leistungen und der Be- 
deutung des Staates für den einzelnen und die Gesamt- 
heit klar geworden. Diese Kenntnis auszubauen, nach jeder 
Richtung Bürgerkunde zu vermitteln, ist eine ebenso inter- 
essante wie dankbare Aufgabe. Die deutsche Schule hat 
die Wichtigkeit und Bedeutung der Staatsbürgerkunde längst 
anerkannt; aber die praktische Umwertung der Ideen be- 
wegt sich vielfach noch in bescheidenen Grenzen. Und wenn 
die Zukunftsschule es als eine ihrer besonderen Aufgaben 
betrachtet, hier aufklärend und fördernd zu wirken, ist es 
notwendig, daß auch die Lehrgänge in den Lazaretten die- 
sem Zweig allgemeiner Bildung Aufmerksamkeit schenken. 
Im Zusammenhang damit verschaffen sie vielen Kriegs- 
beschädigten einen Einblick in die Bedeutung der großen 
Verkehrsadern Deutschlands für das allgemeine wirtschaft- 
liche Leben und 
den Volkswohl= 
stand. Ebenso wür- 
den für viele die ge- 
schichtliche Entwick- 
lung der Handels- 
beziehungen zuden 
außerdeutschen 
Staaten, die Ent- 
stehung und den 
Ausbau der Ver- 
kehrswege, und die 
dadurch bedingten 
Verhältnisse eine 
neue Welt bilden, 
in die eingeführt 
zu werden es sich 
wirklich verlohnt. 
Durch die Ver- 
mittlung allgemei- 
ner Kenntnisse 
wollen #die Lehr- 
gänge den Kriegs- 
beschädigten keinerlei Fachbildung bieten. Wenn der Wissens- 
kreis erweitert, die Allgemeinbildung gefördert wird, so 
werden sich manchem Kriegsbeschädigten ganz von selbst 
neue Erwerbaquellen erschließen. 
An sich dürfen aber diese Kenntnisse allein nicht den An- 
reiz bilden, dem alten Beruf ohne weiteres den Rücken 
zu kehren und einen neuen Wirkungskreis suchen, der 
scheinbar ein besseres Fortkommen verspricht. Hierzu ist 
ja der Kriegsbeschädigte in der Regel schnell geneigt. Zu 
den schon besprochenen Gründen kommen bei der Aus- 
bildung in den Lehrgängen noch manche andere hinzu. Der 
Lehrer wird auch den kleinsten Fortschritt gern anerkennen, 
schon um den Schüler zu ermuntern. Die Fortschritte werden 
auch fast überall zu spüren sein, da die Unterrichtenden den 
Zweck der Arbeit, die praktische Ausdehnung des Wortes 
non scholae sed vitae discimus auch ohne Latein verstehen. 
Aber leicht verfallen die Kriegsbeschädigten in den Glau- 
ben, der neuerworbene Schatz von Wissen und Können 
erhebe sie ohne weiteres über den Kreis ihrer bisherigen 
Arbeitsgenossen. Das Leben rechnet anders! Es lehrt vor 
allem, daß es nicht nur gilt, einen Platz zu erobern, son- 
dern auch zu behaupten. Und das dürfte vielen in gänzlich 
anders gearteten Verhältnissen, in einem neuem Beruf, 
in dem sie ohne weiteres ihren Mann stellen sollen, schwer 
fallen. Die Enttäuschung ist größer und sehwerer, als daß 
sie den Versuch lohnt. 
  
Schreiben mit rechter Unterarm-Prothese 
443 
Deshalb stellen wir als obersten Grundsatz auf: Jeder 
Kriegsbeschädigte wechsele ohne zwingenden 
Grund nie seinen Beruf. 
Wenn ein Kriegsbeschädigter nicht wieder an seinen alten 
Arbeitsplatz zurückkehren will, so kann er durch zweierlei 
Gründe veranlaßt werden. Entweder er ist so verletzt, daß 
er, wie schon gesagt, glaubt, nicht wieder seine frühere 
Beschäftigung aufnehmen zu können oder es reizt ihn eben 
das Neuartige, das er sieht und kennen lernt. Auf ersteres 
wird noch bei Besprechung der einzelnen Berufe einzugehen 
sein. Die Beobachtung, daß sich Kriegsbeschädigte gern 
einem andern Berufe zuwenden, weil sie da alles 
im rosigen Lichte sehen, drängt zu tieferem Nachdenken 
und veranlaßt den Berufsberater, seine Warnungen oft 
und nachdrücklich auszusprechen. 
Postbote oder Torhüter zu werden, gilt nach wie vor 
bei vielen Kriegsbeschädigten als erstrebenswertes Ziel. Die 
Ursachen der Abwanderung aus den bisherigen Berufen 
wurden schon angedeutet. In vielen Fällen sind sie rein 
äußerlicher Art und hängen, wie schon gesagt wurde, 
mit der sozialen 
Wertung der prak- 
tischen Arbeit zu- 
sammen. Als wir 
zu Anfang des 
Weltkrieges noch 
nicht mit den un- 
geheuren Verlusten 
an Menschen zu 
rechnen hatten, da 
konnten derartige 
Wünsche ziemlich 
leicht erfüllt wer- 
den, jabeiderber- 
füllung einzelner 
Berufe war durch 
die Abwanderung 
oft ein nicht unwill- 
kommener Aus- 
gleich geschaffen. 
Die Jahlen haben 
sich aberinzwischen 
· sehr verschoben. 
Mit dem Versorgungsschein, d. h. mit dem unbedingten 
Anspruch auf Unterbringung im öffentlichen Dienst haben 
nur die zu rechnen, denen eine Ausübung ihrer frühe- 
en Tätigkeit schlechterdings unmöglich ist. Einmal sind 
die Stellen an eine bestimmte Höchstzahl gebunden, 
dann aber müssen doch die Post, Eisenbahn, überhaupt 
alle staatlichen und städtischen Behörden zunächst ihre 
aus dem Felde heimkehrenden Angestellten wieder be- 
schäftigen. Der öffentliche Dienst erfordert auch ein ge- 
wisses Maß von Fachkenntnissen, das nicht jeder ohne wei- 
teres besitzt oder sich aneignet. Endlich muß auch darauf 
hingewiesen werden, daß unsere Beamten jeder Rang- 
ordnung physisch in den meisten Fällen mindestens so 
angestrengt tätig sind als der Durchschnittsarbeiter, die 
Aussicht auf eine „Sinekure“, ein füßes Nichtstun, demnach 
reichlich zweifelhaft ist. Der einarmige Briefträger und der 
einbeinige Pförtner oder Fahrstuhlführer können ohne größere 
Anstrengung auch irgendeine andere Arbeit auoführen, die 
besser lohnt. Denn jede Behörde ist bei der Gehalts- 
bemessung an festgesetzte Grenzen gebunden, Industrie und 
Handel aber können — das sehen wir jetzt — die Höhe der 
Löhne nach freiem Ermessen festsetzen, denn letzten Endes 
ist ja doch der Konsument, der Verbraucher, der Leid= 
tragende. 
Es liegt also keine Veranlassung vor, Kriegsbeschädigte 
dem freien Erwerbsleben zu entziehen, da der zu er-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.