Full text: Sachsen in großer Zeit. Band II. Die Kriegsjahre 1914 und 1915. (2)

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beschädigte, die ihrer bisherigen Tätigkeit nicht mehr nach- 
zugehen vermögen, möglichst einem Spezialfach, einem 
Sonderzweig ihres Berufes zuzuführen und sie hierfür 
auszubilden, läßt sich in der Textilindustrie demnach un- 
schwer verwirklichen. Am besten geschieht dies in Verbindung 
mit den entsprechenden Fachschulen, die in ihren muster- 
gültig eingerichteten Lehrgäangen den Weg zum Aufstieg 
ermöglichen. Es seien nur die größeren Schulen erwähnt, 
ohne daß damit die Daseinsberechtigung und der Nutzen 
kleiner Schulen, die mehr aus örtlichen Bedürfnissen her- 
vorgegangen sind, abgesprochen werden soll. Es kommen 
in Frage (nach einer Zusammenstellung des Gewerbe- 
schuldirektors Müller in Glauchau): 
Für Spinnerei: Spinnereischule in Reichenbach i. V., 
für Färberei: Färberschule in Chemnitz, 
für Damastweberei: Webschule ntbönan, 
für Leinen= und Baumwollweberei: Höhere Webschule 
in Zittau und in Reichenbach i. V., 
für Kleiderstoffweberei: Höhere Webschule in Glauchau, 
für Möbelstoffweberei: Höhere Webschule in Chemnitz, 
für Herrenstoffe: Web= und Appreturschule in Krim- 
mitschau, 
3 für Posamentenweberei: Posamentenfachschule in Buch- 
olz, 
für Handmaschinenstickerei: Zeichenschule in Schneeberg, 
für Schiffchenstickerei: Kunstschule in Plauen i. V. und 
tickereischule in Auerbach i. V., 
für Wirkerei und Strickerei: Höhere Wirkschule in 
Chemnitz, 
für Garn= und Warenprüfung: Konditionieranstalt in 
Reichenbach i. V. 
Alle diese Schulen, so vorbildlich ihre Einrichtung, so 
trefflich aufgebaut ihre Lehrgänge sind, so geschickt und 
erfahren ihre Lehrer vorgehen, sie können doch letzten Endes 
nur eine Vorbereitung oder Ergänzung bieten, wenn es 
gilt, den Kriegsbeschädigten auf eigene Füße zu stellen. 
Hier muß der Großbetrieb helfend eingreifen, er muß Hand 
in Hand mit der Schule arbeiten, ebenso wie der Arzt noch 
beratend zur Seite zu stehen hat. Dazu ist es notwendig, 
daß die Besitzer und Leiter der Fabriken die Kriegsbeschä- 
digten nicht bloß dulden, als ein Ubel, mit dem man leider 
eben rechnen muß. Bei vielen hängt diese Anschauung zum 
Teil mit der Erfahrung zusammen, daß vor Kriegsaus- 
bruch in der Textilindusirie mit einem starken Überfluß 
an Arbeitskräften gerechnet werden konnte, der eine Aus- 
wahl unter den Stellensuchenden zuließ. Daß dieser Zustand 
eine durchgreifende Anderung erfahren hat, begreift auch 
der Fernerstehende. Mancher Fabrikant wird auch in Zu- 
kunft weniger wählerisch bel der Annahme von Arbeitern 
verfahren müssen und schon aus diesem Grunde die Kriegs- 
beschädigten mit anderen Augen betrachten. Auch die an- 
fangs gerade in der Textilindustrie geäußerten Ansichten, 
dass z. B. „eine Tätigkeit an den Arbeitsmaschinen in der 
Negel nur solche Beschädigte ausüben können, die über den 
Gebrauch beider Hände verfügen“, oder auch „die Eigen- 
art der Faserstoffe es bedinge, daß hohe Anforderungen an 
das Tastgefühl der Arbeiter zu stellen seien“, eine Pro- 
these hier also weniger nütze als in anderen Industrien, 
haben viele Beispiele widerlegt. Die Ermittelungen der 
Berufogenossenschaften, ergänzt durch die Beobachtungen 
der obengenannten Fachschulen, haben die Erkenntnis ge- 
stärkt, daß eine Wiederbeschäftigung Schwerbeschädigter 
in der Textilindustrie genau so möglich ist, wie auf anderen 
Gebieten. 
Wenn viele kriegobeschädigte Textilarbeiter die Neigung 
zur Abwanderung in andere Berufe zeigen, so hat dies 
noch andere Ursachen. Außer der Sehnsucht nach der 
Laufbahn eines Beamten, die epidemisch überall auftritt, 
kommt die Lohnfrage hinzu. Die wurtschaftliche Lage der 
  
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Textilindustrie darf aber nicht mit dem Maßstab beurteilt 
werden, der vor dem Kriege maßgebend war. Auch daß die 
Kriegsverhältnisse mit ihrem Nohstoffmangel einen Aus- 
nahmezustand bedeuten, steht unstreitig fest. Es ist an- 
zunehmen, daß nach Beendigung des Völkerringens ein 
bedeutender Aufschwung zu erwarten ist, da alle vorhande- 
nen Warenbestände so gut wie vergriffen sind. Wenn die 
Weberzeugnisse der deutschen Industrie sich auf der Bahn 
der Güte weiter wie bisher aufwärts bewegen und sich 
die Ausfuhrmöglichkeiten wieder einstellen, wird die Not- 
wendigkeit gesteigerter Warenerzeugung auch auf die Preis- 
festsetzung wirken. Die Befürchtung, daß ähnliche Lohn- 
verhältnisse, wie vor dem Kriege eintreten und den Ar- 
beiter zu einer Umschau nach anderen Verdienstmöglich- 
keiten veranlassen, erscheint aller Voraussicht nach unbe- 
gründet. Die Erscheinungen gesteigerter Arbeitszeit im 
Verhältnis zu geringeren Löhnen gegenüber anderen In- 
dustriezweigen werden jedenfalls in der Terxtilindustrie zu 
den geschichtlichen Erinnerungen gehören. Die ganze Ent- 
wicklung der Verhältnisse, die Schaffung von Höchstarbeits- 
zeiten und Mindestlöhnen, werden auch hier ausgleichend 
wirken. 
Die vorstehende Schilderung der Verhältnisse in der 
Textilindustrie soll zeigen, daß alle beteiligten Kreise be- 
strebt sind, diesem wichtigen Industriezweig Sachsens einen 
gutgeschulten Arbeiterstamm zu erhalten und die aus diesen 
Kreisen stammenden Kriegsbeschädigten ihrer alten Arbeit 
wieder zuzuführen. 
Doch muß bei aller Vielseitigkeit der Arbeitsverhältnisse 
und den sich daraus ergebenden zahlreichen Verwendungs- 
miöglichkeiten invalider Arbeiter nach einer Richtung hin zur 
Vorsicht und Zurückhaltung geraten werden. Sobald es 
sich nämlich darum handelt, den Musterzeichnern neue 
Kräfte zuzuführen. In der Meinung, daß hier ein Feld 
für diejenigen vorhanden sei, die wegen körperlicher Ge- 
brechen anscheinend ihre frühere Tätigkeit nicht mehr aus- 
üben können, wird mancher durch eigenes Verlangen, oft 
unterstützt durch eine zwar gutgemeinte, aber fachtechnisch 
völlig falsch unterrichtete Berufsberatung, auf eine Bahn 
gewiesen, die in den meisten Fällen zu völliger Ent- 
täuschung führt. Ein wenig zeichnerische Fertigkeit, ange- 
facht durch mehr oder weniger dilettantenhafte Kunst- 
betätigungen in den Lazaretten und Einarmerschulen sind 
vielfach die Veranlassung, sich dem Kunsigewerbe zu- 
zuwenden. 
Und was hier von der Textilindustrie gesagt wird, gilt 
ebenso von allen anderen Berufen, soweit sie mit dem 
graphischen Gewerbe, den vervielfältigenden 
Künsten zusammenhängen. Zunächst muf festgestellt wer- 
den, daß gerade diese Berufe in der letzten Zeit vor dem 
Kriege dermaßen überfüllt waren, daß die Gewerkschaften 
alle Hebel in Bewegung setzten, um neuen Zufluß einzu- 
dämmen. Mögen auch hier noch andere Gründe mitsprechen, 
so ist es doch unbedingt als richtig zu bezeichnen, daß neben 
der Begabung auf gründliche, nicht zu kurzfristige Aus- 
bildung gehalten werden muß. Erfordert schon das Er- 
lernen eines Berufes, der nur rein technische Anforderungen 
stellt, eine bestimmte, nicht zu geringe Zeit, so tritt bei 
den graphischen Gewerben noch die Forderung binzu, daß 
von den Ausübenden ein mehr oder minder großes Maß 
künstlerischen Empfindens verlangt wird, wenn sie den 
Anforderungen einigermaßen genügen sollen. Dieser Stand- 
punkt muß natürlich auch den Kriegobeschädigten gegenüber 
eingenommen werden, wenn sie in dem Berufe für „voll“ 
angesehen und nicht bloß geduldet werden wollen. Ein 
lbergang aus einem anderen Beruf in irgendeinen Zweig 
des graphischen Gewerbes kann demnach nur bei Ausnahme- 
fällen in Frage kommen, die die Regel bestätigen. Das 
müssen alle Berufsberater und auch die Veranstalter kleine-
	        
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