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beschädigte, die ihrer bisherigen Tätigkeit nicht mehr nach-
zugehen vermögen, möglichst einem Spezialfach, einem
Sonderzweig ihres Berufes zuzuführen und sie hierfür
auszubilden, läßt sich in der Textilindustrie demnach un-
schwer verwirklichen. Am besten geschieht dies in Verbindung
mit den entsprechenden Fachschulen, die in ihren muster-
gültig eingerichteten Lehrgäangen den Weg zum Aufstieg
ermöglichen. Es seien nur die größeren Schulen erwähnt,
ohne daß damit die Daseinsberechtigung und der Nutzen
kleiner Schulen, die mehr aus örtlichen Bedürfnissen her-
vorgegangen sind, abgesprochen werden soll. Es kommen
in Frage (nach einer Zusammenstellung des Gewerbe-
schuldirektors Müller in Glauchau):
Für Spinnerei: Spinnereischule in Reichenbach i. V.,
für Färberei: Färberschule in Chemnitz,
für Damastweberei: Webschule ntbönan,
für Leinen= und Baumwollweberei: Höhere Webschule
in Zittau und in Reichenbach i. V.,
für Kleiderstoffweberei: Höhere Webschule in Glauchau,
für Möbelstoffweberei: Höhere Webschule in Chemnitz,
für Herrenstoffe: Web= und Appreturschule in Krim-
mitschau,
3 für Posamentenweberei: Posamentenfachschule in Buch-
olz,
für Handmaschinenstickerei: Zeichenschule in Schneeberg,
für Schiffchenstickerei: Kunstschule in Plauen i. V. und
tickereischule in Auerbach i. V.,
für Wirkerei und Strickerei: Höhere Wirkschule in
Chemnitz,
für Garn= und Warenprüfung: Konditionieranstalt in
Reichenbach i. V.
Alle diese Schulen, so vorbildlich ihre Einrichtung, so
trefflich aufgebaut ihre Lehrgänge sind, so geschickt und
erfahren ihre Lehrer vorgehen, sie können doch letzten Endes
nur eine Vorbereitung oder Ergänzung bieten, wenn es
gilt, den Kriegsbeschädigten auf eigene Füße zu stellen.
Hier muß der Großbetrieb helfend eingreifen, er muß Hand
in Hand mit der Schule arbeiten, ebenso wie der Arzt noch
beratend zur Seite zu stehen hat. Dazu ist es notwendig,
daß die Besitzer und Leiter der Fabriken die Kriegsbeschä-
digten nicht bloß dulden, als ein Ubel, mit dem man leider
eben rechnen muß. Bei vielen hängt diese Anschauung zum
Teil mit der Erfahrung zusammen, daß vor Kriegsaus-
bruch in der Textilindusirie mit einem starken Überfluß
an Arbeitskräften gerechnet werden konnte, der eine Aus-
wahl unter den Stellensuchenden zuließ. Daß dieser Zustand
eine durchgreifende Anderung erfahren hat, begreift auch
der Fernerstehende. Mancher Fabrikant wird auch in Zu-
kunft weniger wählerisch bel der Annahme von Arbeitern
verfahren müssen und schon aus diesem Grunde die Kriegs-
beschädigten mit anderen Augen betrachten. Auch die an-
fangs gerade in der Textilindustrie geäußerten Ansichten,
dass z. B. „eine Tätigkeit an den Arbeitsmaschinen in der
Negel nur solche Beschädigte ausüben können, die über den
Gebrauch beider Hände verfügen“, oder auch „die Eigen-
art der Faserstoffe es bedinge, daß hohe Anforderungen an
das Tastgefühl der Arbeiter zu stellen seien“, eine Pro-
these hier also weniger nütze als in anderen Industrien,
haben viele Beispiele widerlegt. Die Ermittelungen der
Berufogenossenschaften, ergänzt durch die Beobachtungen
der obengenannten Fachschulen, haben die Erkenntnis ge-
stärkt, daß eine Wiederbeschäftigung Schwerbeschädigter
in der Textilindustrie genau so möglich ist, wie auf anderen
Gebieten.
Wenn viele kriegobeschädigte Textilarbeiter die Neigung
zur Abwanderung in andere Berufe zeigen, so hat dies
noch andere Ursachen. Außer der Sehnsucht nach der
Laufbahn eines Beamten, die epidemisch überall auftritt,
kommt die Lohnfrage hinzu. Die wurtschaftliche Lage der
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Textilindustrie darf aber nicht mit dem Maßstab beurteilt
werden, der vor dem Kriege maßgebend war. Auch daß die
Kriegsverhältnisse mit ihrem Nohstoffmangel einen Aus-
nahmezustand bedeuten, steht unstreitig fest. Es ist an-
zunehmen, daß nach Beendigung des Völkerringens ein
bedeutender Aufschwung zu erwarten ist, da alle vorhande-
nen Warenbestände so gut wie vergriffen sind. Wenn die
Weberzeugnisse der deutschen Industrie sich auf der Bahn
der Güte weiter wie bisher aufwärts bewegen und sich
die Ausfuhrmöglichkeiten wieder einstellen, wird die Not-
wendigkeit gesteigerter Warenerzeugung auch auf die Preis-
festsetzung wirken. Die Befürchtung, daß ähnliche Lohn-
verhältnisse, wie vor dem Kriege eintreten und den Ar-
beiter zu einer Umschau nach anderen Verdienstmöglich-
keiten veranlassen, erscheint aller Voraussicht nach unbe-
gründet. Die Erscheinungen gesteigerter Arbeitszeit im
Verhältnis zu geringeren Löhnen gegenüber anderen In-
dustriezweigen werden jedenfalls in der Terxtilindustrie zu
den geschichtlichen Erinnerungen gehören. Die ganze Ent-
wicklung der Verhältnisse, die Schaffung von Höchstarbeits-
zeiten und Mindestlöhnen, werden auch hier ausgleichend
wirken.
Die vorstehende Schilderung der Verhältnisse in der
Textilindustrie soll zeigen, daß alle beteiligten Kreise be-
strebt sind, diesem wichtigen Industriezweig Sachsens einen
gutgeschulten Arbeiterstamm zu erhalten und die aus diesen
Kreisen stammenden Kriegsbeschädigten ihrer alten Arbeit
wieder zuzuführen.
Doch muß bei aller Vielseitigkeit der Arbeitsverhältnisse
und den sich daraus ergebenden zahlreichen Verwendungs-
miöglichkeiten invalider Arbeiter nach einer Richtung hin zur
Vorsicht und Zurückhaltung geraten werden. Sobald es
sich nämlich darum handelt, den Musterzeichnern neue
Kräfte zuzuführen. In der Meinung, daß hier ein Feld
für diejenigen vorhanden sei, die wegen körperlicher Ge-
brechen anscheinend ihre frühere Tätigkeit nicht mehr aus-
üben können, wird mancher durch eigenes Verlangen, oft
unterstützt durch eine zwar gutgemeinte, aber fachtechnisch
völlig falsch unterrichtete Berufsberatung, auf eine Bahn
gewiesen, die in den meisten Fällen zu völliger Ent-
täuschung führt. Ein wenig zeichnerische Fertigkeit, ange-
facht durch mehr oder weniger dilettantenhafte Kunst-
betätigungen in den Lazaretten und Einarmerschulen sind
vielfach die Veranlassung, sich dem Kunsigewerbe zu-
zuwenden.
Und was hier von der Textilindustrie gesagt wird, gilt
ebenso von allen anderen Berufen, soweit sie mit dem
graphischen Gewerbe, den vervielfältigenden
Künsten zusammenhängen. Zunächst muf festgestellt wer-
den, daß gerade diese Berufe in der letzten Zeit vor dem
Kriege dermaßen überfüllt waren, daß die Gewerkschaften
alle Hebel in Bewegung setzten, um neuen Zufluß einzu-
dämmen. Mögen auch hier noch andere Gründe mitsprechen,
so ist es doch unbedingt als richtig zu bezeichnen, daß neben
der Begabung auf gründliche, nicht zu kurzfristige Aus-
bildung gehalten werden muß. Erfordert schon das Er-
lernen eines Berufes, der nur rein technische Anforderungen
stellt, eine bestimmte, nicht zu geringe Zeit, so tritt bei
den graphischen Gewerben noch die Forderung binzu, daß
von den Ausübenden ein mehr oder minder großes Maß
künstlerischen Empfindens verlangt wird, wenn sie den
Anforderungen einigermaßen genügen sollen. Dieser Stand-
punkt muß natürlich auch den Kriegobeschädigten gegenüber
eingenommen werden, wenn sie in dem Berufe für „voll“
angesehen und nicht bloß geduldet werden wollen. Ein
lbergang aus einem anderen Beruf in irgendeinen Zweig
des graphischen Gewerbes kann demnach nur bei Ausnahme-
fällen in Frage kommen, die die Regel bestätigen. Das
müssen alle Berufsberater und auch die Veranstalter kleine-