Full text: Sachsen in großer Zeit. Band II. Die Kriegsjahre 1914 und 1915. (2)

gern zu, weil das Wickeln und Einrollen der Zigarren 
leicht erlernbar ist, und nur gebrauchsfähige Hände vor- 
aussetzt. Ganz abgesehen davon, daß gerade hier der Wett- 
bewerb der Frauen stark auftritt und die Lohngestaltung 
ungünstig beeinflußt, ist auch aus gesundheitlichen Grün- 
den abzuraten. Dazu kommt das gewiß richtige Bestreben 
der Fabrikanten, die Zigarrenarbeit möglichst den ent- 
sprechend eingerichteten und hygienisch besser zu überwachen- 
den Großbetrieben vorzubehalten, da die Küchen und Wohn- 
stuben der Heimarbeiter die Beschaffenheit der Ware nicht 
immer günstig beeinflussen. 
Die Arbeits= und Lohnverhältnisse der Heimarbeit sind 
zurzeit, auch wenn wir von den Kriegsverhältnissen ab- 
sehen, ziemlich ungeklärt. Die Wirkung des Heimarbeiter- 
gesetzes von 1912 wurde ja durch den Krieg unterbrochen. 
Die in Wettbewerb tretende Frauen= und Kinderarbeit, die 
gesundheitlich ungünstigen Zustände der Heimwerkstätten, 
vielfach auch die Willkür der Unternehmer, die Abhängigkeit 
vom Händler und dem, nicht immer im guten Ruf stehen- 
den, Zwischenmeister — alles das lassen das Heimgewerbe 
als „unerwünschte letzte Zuflucht“ erscheinen. Die Be- 
ruhigung aber, die für manchen Kriegebeschädigten darin 
liegt, daß er in häuvlicher Umgebung arbeiten kann, darf 
demgegenüber nicht zu gering eingeschätzt werden. Bei der 
Auswahl einer Heimarbeit sind neben den örtlichen und 
persönlichen Beziehungen vor allem der gegenwärtige Stand 
und die künftige Entwicklungsfähigkeit des betreffenden 
Hausgewerbes zu beachten. Das gilt namentlich dann, 
wenn es sich um einen Erwerb handelt, der dem Kriegs- 
beschädigten als Hauptberuf dienen soll. Dabei stellt es 
sich heraus, daß die Zahl der in Frage kommenden haus- 
gewerblichen Berufe keine allzu große ist. 
Anders freilich gestaltet sich das Bild, sobald die Heim- 
arbeit nicht einen selbständigen Erwerbszweig bildet, son- 
dern nur eine Ergänzung der Berufstätigkeit darstellt. 
Hier ist die Mannigfaltigkeit eine ungleich größere. Ohne 
einem Pfuschertum das Wort zu reden, das zum Schaden 
des Handwerkes überall einzudringen versucht, kann ruhig 
behauptet werden, daß viele Gewerbe, in der rechten Weise 
betrieben, manchem Kriegsbeschädigten lohnenden Verdien 
bieten können. - 
Das gilt besonders für Kriegsbeschädigte aus ländlichen 
Verhältnissen. 
Wurde bei Besprechung der Industrie gesagt, daß ihre 
Bedeutung für Deutschlands Größe erst durch den Welt- 
krieg zur rechten Anerkennung gelangte, so kann dasselbe 
in gleichem Maße, natürlich in anderer Beziehung, von 
unserer Landwirtschaft behauptet werden. Es ist hier 
nicht der Platz, die Ernährungsfrage aufzurollen, die uns 
zeigt, daß „der Bauer des Vaterlandes erster Sohn ist“. 
Die Richtigkeit dieses Wortes E. M. Arndts hat sich auch 
in der Beteiligung der vom Lande stammenden und mit 
der Landwirtschaft in engster Verbindung stehenden wehr- 
haften deutschen Jugend gezeigt. Stellte doch in Friedens- 
zeiten z. B. Ostpreußen, in welcher Provinz die ländliche 
Bevölkerung vorherrscht, verhältnigmäßig rund dreieinhalb- 
mal soviel Soldaten als Berlin. 
Nun wissen wir wohl, und spüren's am eigenen Leibe, 
daß Sachsen kein ackerbautreibender Staat ist, wenigstens 
nicht in dem Maße, daß die ländliche Bevölkerung in ge- 
ordneten Zeiten einen so hohen Prozentsatz an Soldaten 
stellt. Immerhin dürfte die Anzahl der in den Kämpfen 
Beschädigten so groß sein, daß ihre besondere Stellung 
innerhalb der Kriegsbeschädigtenfürsorge ohne weiteres an- 
zuerkennen ist. 
Auchbel den kriegsbeschädigten Landleuten — wenn wir der 
Kürze halber mit dieser Bezeichnung alle mit der Land- 
wirtschaft in Verbindung stehenden bezeichnen wollen — sind 
es zwei Gründe, die für eine Abwanderung angeführt werden. 
  
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Zunächst die „Landflucht“ im allgemeinen. Ebenso, wie 
der Fabrikarbeiter und Handwerksgeselle vielfach es als er- 
strebenswertes Ziel betrachtet, die Werkbank mit dem 
Schreibtisch zu vertauschen oder statt des Schurzfelles 
einen Beamtenrock zu tragen, denkt mancher Landarbeiter, 
daß in der Stadt das Geld auf der Straße liegt, während 
der Knecht sich mühsam für wenige Groschen plagen muß. 
Auch das Verhältnis des „freien“ Arbeiters der Stadt 
wird oft dem abhängigen Dienstverhältnis der Dorf- 
bewohner gegenübergestellt. Der gewaltige Aufschwung, 
den unser Vaterland in den letzten Jahrzehnten genommen 
hat, führte zu einer gewaltigen Bevölkerungsverschiebung 
vom platten Lande nach den Großstädten. 
Es kann hier nicht untersucht werden, durch welche Maß- 
nahmen eine derartige Abwanderungsbewegung in Hinblick 
auf das allgemeine Wohl und zur Hebung der Wirtschaft- 
lichkeit des einzelnen, wenn auch nicht aufzuhalten, so doch 
einzuschränken ist. Uns erscheint es vor allem dringend 
notwendig und erstrebenswert, alle vom Lande stammenden 
und in der Landirtschaft tätig gewesenen Kriegsbeschä- 
digten wieder dahin zurückzuführen, sie womöglich auf dem 
Lande seßhaft zu machen. War schon in Friedenszeiten 
der Anreiz, der den Landbewohner seiner Heimat zu ent- 
fremden suchte, groß, so sind die Verlockungen im Kriege 
fast noch gestiegen. Durch den Eintritt ins Heer, den 
wechselnden Dienst, die vielgestaltige Umgebung, das Laza- 
rettleben in den großen Städten u. v. a. ist manchem Land- 
arbeiter eine neue Welt aufgegangen, von der er natur- 
gemäß zuerst nur die Lichtseiten sieht. Die gegenwärtig oft 
märchenhaft hohen Löhne der Industriearbeiter lassen die 
baren Einkäufe der ländlichen Bevölkerung leicht als 
Bettelpfennige erscheinen. Rechnet doch der Kurzsichtige 
meist nur mit dem baren Gelde. Wenig Einsichtsvolle sehen 
freilich gerade jetzt am deutlichsten, wie wirtschaftliche Ge- 
fahren dem Landbewohner am wenigsten schaden können 
und sein Leben in jeder Lage das Gleichgewicht hält. 
Der andere Grund, weshalb viele Kriegsbeschädigte ihren 
Broterwerb in den Städten suchen wollen, ist der, weil sie 
glauben, hier besser und leichter eine Arbeit zu finden. 
Und der mit dem Wesen des Landwirtschaftsbetriebes ober- 
flächlich Vertraute ist leicht geneigt, die Ansicht, daß an 
die Körperkräfte der arbeitenden landwirtschaftlichen Be- 
völkerung höhere Ansprüche gestellt werden, als in vielen 
anderen Berufen, zu unterstützen. Gestärkt wird diese An- 
sicht auch durch den Umstand, daß sich die Arbeit zu 
einem erheblichen Teil im Freien abspielt, im steten Wechsel 
von Hitze und Kälte, Wind und Wetter. Daß letzteres 
dem Landbewohner nichts anhaben kann, ihn nur stärkt und 
kräftigt, ist eigentlich sprichwörtlich. Die Anforderungen 
an die Körperkräfte find in der Landwirtschaft nicht höhere 
als in der Industrie und im Handwerk, da sich der Betrieb 
im allgemeinen ruhiger abwickelt. Da die Landarbeit aber 
ungleich wechselnder und reicher abgestuft ist, kann getrost 
behauptet werden, daß die Landwirtschaft alle Kriegsbeschä- 
digten, die ihr treu bleiben oder sich ihr zuwenden wollen, 
zu beschäftigen imstande ist. 
Im Gegensatz zu der Industrie, in der von dem Arbeiter 
die gleiche Beschäftigung fortlaufend verlangt wird, bringt 
der landwirtschaftliche Betrieb an sich einen steten Wechsel, 
nicht nur täglich, sondern auch im Verlauf der Jahres- 
zeiten. Im Großbetrieb ist man wohl zur besseren Aus- 
nützung der Kräfte auf eine Arbeitsteilung zugekommen, 
die entfernt an die Gebräuche in der Induftrie erinnert. 
Aber auch dann noch herrscht ein starker Wechsel vor. 
Arbeitsreiche und arbeitsschwache Zeitabschnitte wechseln 
miteinander ab. Diese Tatsache ist für die Kriegsbeschädigten 
insofern günstig, als nicht während des ganzen Jahres 
an ihre Kräfte die gleich hohen Anforderungen gestellt wer- 
den. Der nicht voll leistungsfähige Körper steht also nicht
	        
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