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den Vorstoß südlich von Givet bereits früher in die Tat
umzusetzen.
Sollte dieser Vorstoß zu einem Schlieffenschen „Cannae“
führen, wie es in der folgenden Augustwoche bei Tannenberg
dem Generalobersten v. Hindenburg gelang, so mußte der
Vorstoß südlich von Givet von der Obersten Heeresleitung
(oder von der Armeegruppe, welche die drei Armeen des
deutschen rechten Flügels zu umfassen hatte) spätestens zu
derselben Zeit der dritten Armee übertragen oder frei-
gegeben werden, als ihr das XI. Armeekorps für die Be-
lagerung von Namur entzogen wurde, also am 20. August
1914. Dabei hätte die um ein Viertel ihrer Kraft verringerte
dritte Armee ausdrücklich von der weiteren Bereitstellung
von Truppen gegen Namur entbunden, dafür aber an Stelle
der gerade in entscheidender Stunde abberufenen Heeres-
reiterei zum mindesten mit verstärkten Aufblärungsfliegern
ausgestattet werden müssen.
Die Oberste Heeresleitung wußte seit 17. und 18. August
aus den Meldungen der Heeresreiterei den Raum zwischen
Givet und dem unteren Semois frei vom Feinde. Sie teilte
am 20. August die Gruppierung der französischen Heeres-
kräfte den Armeen mit (Seite 28). Sie übersah zu dieser
Zeit bereits, daß die vierte Armee gegen die vier Korps
(12 Divisionen) vor ihrer Front nach Süden eindrehen
würde (Seite 30). Dadurch entstand eine Lücke zur dritten
Armee, welche der dritten Armee den nötigen Raum für
den Vorstoß über Fumay auf Rocro' freigab.
Die dritte Armee würde am 20. August meiner Ver-
mutung nach das im zweiten Treffen hinter dem XII. und
XIX. Armeekorps marschierende Xll. Reservekorps, welches
an diesem Tage mit dem Hauptquartier Erezée, mit der
24. Reservedivision Soy und mit der 23. Reservedivision
Laroche erreichte, zu dem Vorstoß über die Maas südlich
von Givet in der Richtung auf Rocroi verwendet haben.
Mit Aufbietung derselben Marschleistung würde das
XII. Reservekorps, das am Morgen des 23. August das
rechte Maasufer bei Yvoir und Houx erreichte, zu der-
selben Zeit mit den Marschspitzen seiner Dioisionen den
Naum von Bourseigne Neuve und Willerzie erreicht haben,
wo die allein zu schwache Division Götz von Olenhusen
erst spät in der folgenden Nacht anlangte. Das XII. Reserve-
korps würde mit seinen drei Pionierkompagnien und den
beiden Diovisionsbrückentrains an einem oder zwei der in
Betracht kommenden Übergangsorte Fumay, Revin, Mont-
hermé schnell genug die Maas überwunden haben und im
Raume von Nocrol voraussichtlich bereits am 24. August
vormittago bereitgestanden haben, so stark, daß der von der
Sambre zurückmarschierende Feind diese Truppenmacht nicht
einfach überrennen konnte.
Völlig vernichtend für den englisch-französischen linken
Heeresflügel mußte aber der deutsche Vorstoß südlich von
Givct über Roeroi hinaus werden, wenn die Oberste Heeres-
leitung das Heereskavalleriekorps v. Richthofen der Vor-
stoßgruppe zugewiesen hätte.
Das Kavalleriekorps 1 wurde am 2o. August von der
zweiten Armee, welcher das Kavalleriekorps unterstellt war,
von der ODinantfront unter nordöstlicher Umgehung von
Namur und Durchkreuzung der rückwärtigen Staffeln des
Belagerungokorps von Namur und der zweiten Armee,
also marschtechnisch unter Überwindung denkbar großer
Schwierigkeiten, nach dem rechten Flügel der zweiten Armee
gezogen (Seite 18). Eo erreichte dabei am 23. August
vormittags den Raum von St. Pierre—St. Paul, etwa
7 Kilometer nordösilich von Binche.
In derselben Zeit und unter Aufbietung derselben Marsch-
S
Jumay- Nocroi bis
Revin
an die große Heerstraße Maubeuge —La Capelle gelangt
sein und damit der französischen fünften Armee ihre
energie würde es über Willerzie
Rückzugsstraßen östlich von Maubeuge völlig gesperrt haben.
Der französischen fünften Armee wäre als letzte Zuflucht
vielleicht Maubeuge — ein zweites Sedan — geblieben.
In der folgenden Augustwoche hätte sich dann nach meiner
Überzeugung zu dem Cannae-Tannenberg im Osten ein
Cannae im Westen im Naume zwischen Nocroi und Mau-
beuge gesellt. "
Hb die von mir angedeutete Verwendung des Kavallerie-
korps von Richthofen seitens der Obersten Heeresleitung
überhaupt in Erwägung gezogen worden ist, bezweifle ich.
Jedenfallo entfiel mit ihrer Unterlassung die Möglichkeit
zu ganzer Arbeit zwischen Sambre und Maas.
Die Verwendung eines geschlossenen Armeekorps der
dritten Armee zu dem Vorstoße südlich von Givet hätte
auch für den Frontangriff im Raume von Dinant gün-
stigere taktische Verhältnisse geschaffen. Die gewaltsame
Erkundung am 15. August hatte festgestellt, daß die feind-
liche Abwehrstellung in der unmittelbaren Umgebung von
Dinant besonders stark war. Man hätte dann unter bloßer
Beschäftigung des Feindes bei Dinant dem XII. Armee-
korps das Erzwingen des Maasübergangs unterhalb von
Dinant, dem XIX. Armeekorps das Uberschreiten der Maas
oberhalb von Dinant übertragen können unter Freigabe
der Ausdehnung der äußeren Korpsflügel, soweit das die
Ferngeschütze von Namur und Givet gestatteten.
Dann würde vorauesichtlich das XII. Armeekorps auf die
ganz besonders günstigen Ubergangsverhält-
nisse bei Hourx, wo die Berge westlich des Flusses weit
zurückspringen und einen Brückenkopf vorwärts der Maas
dem Angreifer freigeben, zugekommen sein, und das
XIX. Armeekorps hätte den Vorsioß bei Waulsort—Hastiere
mit ganz anderen Kräften, als tatsächlich dort eingesetzt
wurden, unternommen.
Der Druck beider Frontkorps von ihren äußeren Flügeln
aus gegen die bastionsartige feindliche Stellung auf der
Hochfläche von Onhaye hätte auch für die Bezwingung der
dortigen französischen Hauptstellung, für die überholende
Verfolgung (XIX. Armeekorps) und — wenn dies nötig
wurde — auch für die direkte Entlastung der zweiten Armee
(XII. Armeekorpo) die einfachsten und wirksamsten Vor-
bedingungen geschaffen. Es wären auf diese Weise klare,
in sich abgeschlossene Operationsaufgaben für alle drei
Korpoverbände der dritten Armee entstanden.
Die strategische Lage zwischen Sambre und Maas im
August 1914 ruft die Erinnerung an diejenige an der Maas
südöstlich von Sedan Ende August 1870 wach. Auch 1914
wurde ein Westheer, zum Entsatz einer Festung (Namur)
im Vormarsch, von weitüberlegenen Feindeomassen bedroht,
unter beiderseitiger Umfassung in einen festen Platz, dies-
mal Maubeuge, bineingeworfen zu werden.
Die 30 Infanterie= und s Kavalleriedivisionen der
Armeen Kluck, Bülow und Hausen standen den framsösisch-
englischen 16 Infanterie= und 4 Kavalleriedivisionen am
20. August auf dem Bogen Ninove—Namur—Jemelle,
etwa 120 Kilometer, und am 23. August auf dem Bogen
Ath—Charleroi—Willerzie, etwa 130 Kilometer, gegenüber.
Die Endpunkte Ath und Willerzie waren 95 Kilometer von-
einander entfernt. Die Flügel konnten bei einheitlicher Lei-
tung an diesem Tage bereits beträchtlich einander genähert
sein. Spätestens am 25. August konnte der Kreis durch die
deutsche Heeresreiterei südöstlich von Maubeuge geschlossen
werden.
Das Meisterstück für eine solche Heerecbewegung, das
der große Moltke Ende August 1870 der Welt vorgeführt
hatte, und das der Generaloberst von Hindenburg wenige
Tage später 1914 auf dem östlichen Kriegsschauplatze trotz
unzulänglicher Kräfte zur Vollendung führte, wurde leider
im August 1914 vom Neffen Moltke nicht wiederholt.
Bevor ich der Einkreisungsfrage nähertrete, möchte ich