Full text: Sachsen in großer Zeit. Band III. Die Kriegsjahre 1916-1918. (3)

Selbst Menschen, die an streng rechtliches Denken gewöhnt 
waren, sahen sich zu Akten der Selbsthilfe nach dem Grund- 
satz „Not kennt kein Gebot“ gezwungen! So unsagbar 
traurig es war: die geistige Bewegung von 1914, die mit 
einer sittlichen Läuterung des ganzen Volkes begonnen hatte, 
kehrte sich in ihr Gegenteil. Nicht allein die physischen 
Kräfte fingen an zu versagen; auch die seelische Gesundheit 
des Volkes litt. Mochten einzelne — und es mögen nicht 
wenige gewesen sein — auf der geistigen Höbe sich halten 
oder mit Anstrengung aller Kraft wieder emporklimmen, 
im Seelenleben der breiten Masse der Bevölkerung mehrten 
sich die Sturmzeichen der Zerrüttung. 
Aber nicht dies allein: ein ganz neuer Geist trat in die Er- 
scheinung, der anderen Idealen als denen von 1914 hul- 
digte. Begeisterung für den Krieg an sich war auch im 
Anfang des Kampfes nicht aufgeglüht, nur Begeisterung für 
die Nettung des Vaterlandes aus gemeinsamer Not. Nun 
wurde, während im Innern der Burgfrieden zerbrach, nach 
außen die Friedenssehnsucht übermächtig: Vom glorreichen 
Frieden, vom deutschen Frieden kam man zum ehrenvollen 
Frieden, zum Verständigungsfrieden, zum Rechtsfrieden, 
schließlich zum Frieden um jeden Preis. Aber nicht nur der 
Wunsch nach Wiederkehr friedlichen Glücks, das heiße Be- 
gehren nach Rettung aus der Kriegsnot trieben in die neue 
Richtung des Denkens; auch ein dem Kriege grundsätzlich 
abgewandtes, ja gegen ihn mit Abscheu erfülltes Mensch- 
beitsideal stieg mächtig empor: schimmernd und lockend 
standen die Gedanken an Völkerversöhnung, Völkerbund 
und ein beglücktes Dasein in sozialer Gerechtigkeit vor hof- 
fenden Seelen, bei einzelnen Führern wie auch weit ver- 
breitet beim einfachen Mann. So brach das Verlangen nach 
Frieden, der Wille unnützem Blutvergießen ein Ende zu 
machen, in der Stille schon längst wirksam, überraschend 
plötzlich wie mit elementarer Gewalt durch. Noch einmal 
hatten sich nach dem Abschluß des Friedens mit der Ubraine 
und Nußland, nach den ersten glänzenden Erfolgen der deut- 
schen Frühjahrsoffensive 1918 die Hoffnungen auf einen 
glücklichen Ausgang des ungeheueren Ringens der Deutschen 
wider fast die ganze Welt mächtig erhoben. Da setzte um 
die Mitte Juli der Gegenangriff der Feinde mit unüberbiet- 
barer Wucht ein; die deutsche Front wich nach schwersten 
Verlusten langsam, doch in sich fest, zurück. Das Signal 
zum Ende aber erscholl, wie einst zum Anfang des Kriegs, 
vom Südosten: die Nachricht vom Zusammenbruch Bul- 
gariens (am 25. September). Nun überstürzten sich wieder 
die Ereignisse. Das deutsche Waffenstillstandsangebot (vom 
4./S. Oktober 1918) und, trotz eines Versuches der Umbildung 
der Verfassung in demokratischem Sinn, die Revolution 
am 4.—10. November brachten die Entscheidung; der Krieg 
war verloren. » 
Wie Sachsen bei Kriegsbeginn nur dem Rufe von außen 
gefolgt war, so spielte es auch bei solcher Friedensbewe- 
gung keine führende Rolle. Aber es nahm, am frühesten 
und stärksten in den städtischen Zentren, daran in seiner 
Weise teil. Schon deutlich war spürbar geworden, daß 
sich ein Umschwung des geistigen Lebens der Kriegszeit vor- 
bereitete. Die sächsische Presse hallte wider von den Frie- 
denserörterungen; in kräftigsten Tönen ungescheut, bisweilen 
mit ungemeiner Schärfe der Anklage gegen das herrschende 
System, wurden von den „Unabhängigen“ die soziallstischen 
Forderungen erhoben. Im Buchwesen behauptete die Kriegs- 
literatur nur noch einen bescheidenen Platz; überhaupt war 
die Produktion auf das Allernotwendigste eingeschränkt. 
Die Kriegsgraphik hatte ihren Reiz verloren; selbst das 
Plakat (zur neunten Kriegsanleihe) wirkte nur noch matt. 
Auch im öffentlichen Vortrags= und Konzertwesen war eine 
gewisse Müdigkeit eingezogen. Auf den Bühnen gab man 
zugkräftige Stücke für die zerstreuungsbedürftige Masse 
oder wandte sich wieder den auf verfeinerte Genußfähig- 
383 
keit abgestimmten, schwere und ungewöhnliche Seelenpro- 
bleme behandelnden literarischen Leistungen zu. In der 
bildenden Kunst und in der Dichtung feierten in Dresden 
die Vorkämpfer der allerjüngsten Zeitrichtung ihre Triumphe, 
in rauschenden oder sensitivsten Offenbarungen eines neuen 
Innenlebens mystischer Art; als ein Zeichen der Zeit er- 
schien im Oktober 19#18 „Der Komet“, die Zeitschrift „Die 
Menschen“ wurde von Vertretern des „Aktivigmus“ heraus- 
gegeben. Es war wie ein Aufschrei der Seele, die nach Ent- 
fesselung begehrte und sich auszutoben begann; ein völliger 
Umsturz aller geistigen Werte, eine Auflösung aller ge- 
bundenen Form in Sprache, Bild und Tongefüge schien sich 
anbahnen zu wollen. Die buntesten Sinnegeindrücke bei Tag 
und Nacht wurden in wirrem Durcheinander auf die Lein- 
wand geworfen, ohne Einordmung in Naum und geit. Alles 
war in dieser Kunst dem gewohnten natürlichen Denken und 
Schauen zuwider; regten sich Wahnideen oder waren dies 
wirblich Zeichen einer hereinbrechenden Zeit völlig anderer 
geistiger Orientierung? 
Innerlich gefestigter blieb die Kirche; doch auch hier 
wurden ungewohnte Klänge laut. Ließ sich noch leugnen, 
daß die Heimsuchung des Krieges eine sittlich-religiöse 
Hebung des Volkbes nicht erwirkte? Es war doch ein den 
Christen bis ins innerste Mark treffendes Erlebniö, wenn 
beim Eintritt in das neue Kriegsjahr der Prediger das 
Gleichnis vom Weingärtner auszulegen hatte, der den Wein- 
bergöbesitzer, welcher drei Jahre lang vergeblich Frucht am 
Feigenbaum gesucht hat, nun in tiefster Sorge inständig an- 
fleht: „Herr, laß ihn noch dies Jahr, bis daß ich um ihn grabe 
und bedünge ihn, ob er wollte Frucht bringen; wo nicht, 
so haue ihn darnach ab“ (Ev. Luc. 13). Schon mehrten 
sich die Stimmen, welche eine stärbere Verkündigung des 
Friedensgedankens von der Kirche forderten. Auf dem 
Evangelisch-sozialen Kongreß, der im Oktober 1918 in 
Leipzig tagte, wurden öffentlich Erörterungen über „die 
Bedeutung der evangelischen und sozialen Gedanken für 
die künftige Wiederannäherung der christlichen Völker“ 
und sodann über „die Förderung der Begabten im Lichte 
der Volkserziehungswissenschaft“ gepflogen. Bei der Thema- 
wahl der Gelehrten herrschten wieder die Probleme rein wissen- 
schaftlicher Forschung vor; oder es sprachen und schrieben 
Historiker und Staatsrechtslehrer über Formen und Möglich- 
keiten eines Friedensschlusses, Philosophen über die Fragen 
der Lebensreform. Die Landesuniversität, eben bereit, ein 
neues Kriegswintersemester mit sehr eingeschränbtem Lehr- 
betrieb zu beginnen, aber gewillt durchzuhalten, bereitete für 
ihre feldgrauen Söhne, die noch draußen in härtestem 
Kampfe standen, eine Liebesgabe vor: „Leipzig als Stätte 
der Bildung“. Aber es kam nicht mehr dazu, das inhalts- 
reiche und schönausgestattete Buch in Tausenden von Erem- 
plaren ins Feld zu senden: den Heimgekehrten ward es als 
Ehrengabe in einer wehmütig stolzen Feier überreicht, in 
welcher der großen Schar der für das Vaterland gefallenen 
Kommilitonen gedacht und den wieder zu neuer studentischer 
Arbeit Versammelten der Willkommengruß entboten ward 
(im Neuen Theater, am 1. Juni 1919). 
So nimmt nach solchem Ausgang die Weltkriegszelt vom 
heißen Sommer 1014 bis zum stürmischen Herbst lols in 
der Geschichte des geistigen Lebens in Sachsen eine ganz 
eigene Stellung ein: Abschluß der vorangegangenen glän- 
zenden Epoche und Schicksalswende zugleich, ist sie nur eine 
Ausnahmeerscheinung von völlig einziger Art. Aber als 
solche ist sie denkwürdig in höchstem Maß und wird in 
der Geschichte ein unvergängliches Leben haben. Unseren 
glücklicheren Nachkommen, des sind wir gewiß, wird sie, 
von den Schlacken der Gegenwart befreit und in allem, 
was an ihr bleibenden Wert hat, erkannt, reiner und größer 
erscheinen, als heute uns, denen es beschieden war, sie in 
Freude und Weh zu durchleben.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.