Full text: Sachsen in großer Zeit. Band III. Die Kriegsjahre 1916-1918. (3)

einmal anders werden könnte. Da kam der Krieg. Er 
traf uns auf allen Wirtschaftsgebieten, mit Ausnahme der 
Finanzwirtschaft, unvorbereitet. Deshalb zeigten sich in der 
ersten Kriegszeit ein Schwanken und Tasten und vielfach 
Unsicherheit im Erkennen des Notwendigen und Richtigen. 
Verhältnismäßig schnell wurde dieser Zustand überwunden. 
Das Vertrauen in die gesunde Kraft unseres Wirtschafts- 
körpers behrte bald zurück. Neben den schnellen Erfolgen 
unserer Waffen trug wesentlich hierzu bei, daß der Krieg 
zunächst befruchtend auf viele Gebiete des Erwerbslebens 
durch umfangreiche Heeresaufträge wirkte, und daß weit- 
blickende, glückliche Maßnahmen die hemmenden Einflüsse 
des Krieges milderten. So kam es, daß die Zeit anfäng- 
licher Stockungen in der sächsischen Industrie, wie sie durch 
das plötzliche Aufhören des Auslandsgeschäftes, durch starke 
Einschränkungen des privatwirtschaftlichen Güterverkehrs der 
Staatsbahnen und durch die Einberufung Tausender von 
Arbeitern zum Heeresdienste bedingt waren, bald durch eine 
solche guter Beschäftigungen abgelöst wurde. Insbesondere 
waren es die sächsische Tertilindustrie und die Metall- 
industrie, die von der Heeresverwaltung in der ersten geit 
mit umfangreichen Heeresaufträgen bedacht werden konnten. 
Dieser Zustand war jedoch nicht von Dauer. Die im weiteren 
Verlauf des Krieges immer fühlbarer werdende Absperrung 
der deutschen Volbswirtschaft vom Weltverkehr zwang sehr 
bald, mit den vorhandenen Vorräten und Erzeugnissen ganz 
besonders haushälterisch und planmäßig umzugehen. Die 
unmittelbaren Folgen davon waren nach und nach immer 
einschneidendere Maßnahmen für Industrie und Handel. 
Von den fühlbarsten Folgen waren die bald notwendig 
werdenden Ausfuhrverbote für Sachsen begleitet. Die säch- 
sische Tertilindustrie und die sächsische Maschinenindustrie 
hatten mit ihren Erzeugnissen festen Fuß in der ganzen Welt 
gefaßt. Die dadurch entstandenen umfangreichen Export- 
beziehungen gingen durch die Ausfuhrverbote verloren. Hatten 
hierfür die Heeresaufträge zunächst auch für viele Betriebe 
einen Ersatz geboten, so wurde die Lage der sächsischen 
Industrie doch schwierig, als zum Schutze der deutschen 
Währung auch Einfuhrverbote nötig wurden, die sich an- 
fänglich nur auf Luruswaren und entbehrliche Gegenstände 
bezogen, seit Januar 1017 aber dahin führten, daß die ge- 
samte Einfuhr unter Reichskontrolle genommen und der in 
sehr engen Grenzen arbeitenden Genehmigungspflicht des 
Reichskommissars für Einfuhr= und Ausfuhrbewilligung 
unterworfen wurde. Die Schwierigkeiten vermehrten sich, 
als zu den Einfuhr= und Ausfuhrverboten die Beschlagnahme 
aller Rohstoffe trat, wie sie sich im Interesse gesicherter 
Kriegswirtschaft auf alle wesentlichen und zum Teil auch 
auf unwesentliche Stoffe erstrecken mußte. Besonders emp- 
findlich war für die sächsische Tertilindustrie die Beschlag- 
nahme von Wolle, Baumwolle, Hanf und Flachs. Wohl 
waren vor dem Kriege besonders starke Bestände dieser 
Rohstoffe vorhanden, und auch im Kriege kamen noch ziem- 
liche Mengen, vor allem von Baumwolle herein. Aber dieses 
Bild änderte sich mit dem Eintritt Italiens in den Krieg 
im Mai 1915 und der immer rücksichtsloser auch gegen- 
über den Neutralen durchgeführten Absperrung. Die Folge 
davon waren zahlreiche Verarbeitungsverbote und -beschrän-- 
bungen für die Textilindustric, die nunmehr zu bedeutenden 
Betriebseinschränkungen und damit zur Entlassung zahl- 
reicher Arbeitsbräfte führten. Die volkswirtschaftlich nach- 
teiligen Folgen dieser Maßnahmen wurden für die arbeitende 
Bevölkerung durch eine weit ausgreifende Tertilarbeitslosen= 
fürsorge gemildert, welche aus Mitteln des Reiches, des 
Staates, der Gemeinden und der Tertilindustriellen durch- 
geführt wurde. Für die Textilunternehmungen selbst ergab 
sich eine gewisse Milderung des stark verringerten Beschäf- 
tigungsgrades dadurch, daß eine nicht unbeträchtliche An- 
zahl von Betrieben zur Verarbeitung von Ersatzstoffen über- 
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gehen konnte, inebesondere von Kunstseide, Seide und 
Papierstoffen. 
Die weiteste Verwendung unter den Ersatzgeweben nahmen 
die Papiergarnspinnerei und -verarbeitung ein. Es 
kommen hauptsächlich zwei Verfahren in Anwendung. Ent- 
weder man verspinnt die Zellulose unmittelbar oder nach- 
dem sie in Papier verwandelt und in dünne Streifen ge- 
schnitten ist. Eine Verbesserung der ersten Art stellt das 
Zelluloseverfahren dar, bei dem die hindernden Nebenstoffe, 
wie Tonerde, Harz, ausgeschieden und die Abfälle verringert 
werden. Verschiedene Umstände begünstigten die rasche Ent- 
wickelung der Papiergespinnstindustrie. Einmal ist Zellulose 
ein Rohstoff, der in genügender Menge auch im Kriege 
herbeigeschafft werden konnte, zum anderen lassen sich die 
vorhandenen Maschinen beim Übergang zur Papiergarn= 
verarbeitung mit geringen Anderungen weiter verwenden. 
Die Zahl und Art der aus Papiergewebe hergestellten Artikel 
ist außerordentlich mannigfaltig, ihre Eignung beschränkt sich 
jedoch vorwiegend auf gröbere Stoffe, wie Säcke, Matten, 
Decken. Für den Heeresbedarf hat die Benutzung des Papier- 
garnes gute Dienste geleistet, vor allem in der Herstellung 
von Säcken, Zelten, Matratzen usw. Wissenschaft und Fach- 
leute sind jedoch bei diesen Ergebnissen nicht stehen geblieben. 
Forschungsinstitute für Tertilindusirie sind entstanden, die 
darauf hinarbeiten, die Fehler der bisherigen Erzeugnisse zu 
beseitigen, die Widerstandsfähigkeit zu erhöhen, eine größere 
Geschmeidigkeit und Feinheit zu erreichen. Jedenfalls befand 
und befindet sich diese Industrie in voller Entwickelung, 
und man kann damit rechnen, daß die Verwendung von 
Papiergarn für eine Reihe von Jahren und Verwendungs- 
zwecke auch späterhin beibehalten wird, besonders, wenn die 
Beeise für Zellulose wieder auf eine normale Höhe zurück- 
gehen und damit billigere Bedingungen geschaffen werden, 
so daß es für andere Artikel zum wenigsten als Streckmittel 
gebraucht werden kann. So wird es sicherlich dazu bei- 
tragen, unsere Einfuhr an ausländischen Textilstoffen zu 
mindern, und für sie vielleicht dauernd einen teilweisen Er- 
satz bieten. 
Auf der Umschau nach neuem Tertilersatz schenkte man 
neben der Brennessel auch der Torffaser Beachtung. Man 
gebrauchte die Torffaser zum Ersatz von Wolle und verarbei- 
tete sie gepreinsam mit Gewebeabfällen. Einen wichtigen Nob- 
stoff entnahm man weiter dem Kolbenschilf, Typha genannt. 
Das so erlangte Rohmaterial eignete sich zur Herstellung 
von gröberen Waren, wie Gurte, Filze, Decken usw. Hand 
in Hand mit dieser Erschließung neuer Textilrohstoffe ging 
das Bestreben, die Gewinnung der bekannten einheimischen 
Rohstoffe zu vermehren. So wurde eine ganz wesentliche 
Vermehrung des Flachsanbaues erzielt. Auch zur Hebung 
der Wollerzeugung wurden erfolgreiche Schritte getan. 
Einen Uberblick über das ausgedehnte Gebiet der ein- 
heimischen Faserstoffgewinnung, über die Leistungen der 
Papiergarnindustrie, über die Verwertung der Brennessel-, 
Torf= und Typha-Faser und die Aussichten für die Zu- 
kunft, über die Ausdehnung des Hanf= und Flachsanbaueo 
gewährte die deutsche Faserstoffausstellung, die im Früh-= 
jahr 1018 in Berlin eröffnet wurde. 
Die vielseitigen Bestrebungen und Fortschritte auf dem 
Gebiete der Versorgung mit Tertilrohstoffen haben auch in 
Sachsen die Bewirtschaftung während der Kriegsjahre auch 
ohne ausländische Zufuhr aufrechterhalten helfen und viel- 
fach selbst eine Neubelebung der Beschäftigung in der 
Industrie veranlaßt. 
So erfreulich diese Tatsachen auch waren, so waren diesem 
Umwandlungsprozeß doch unüberschreitbare Grenzen in dem 
nicht unbeschränkten Vorhandensein der betreffenden Ersatz- 
stoffe und der gegebenen Ausdehnungsmöglichkeiten gezogen. 
Da andererseits der Heeresbedarf immer dringender wurde, 
führte die Entwickelung schließlich auch in der Textilindustrie 
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