III. Die wichtigsten feindl. Staaten nach ihren wirtschaftl. Beziehungen usw. 69
Die letzten Worte sind es, die uns den Schlüssel zu der russischen Kriegs—
politik geben. Diese wandte sich, als sie das ihr zunächst erwünschte Siel
Osterreich-Ungarn durch Deutschland gedeckt sah, alsbald gegen die Türkei.
Ostgalizien, nach russischer Ausdrucksweise „Rot-Rußland“, gilt für die
russischen Hanflawisten als „unerlöstes“ russisches Gebiet, und der Hanfsla-
wismus war mittlerweile in Rußland als politische Macht emporgekommen.
Während Westgalizien polnisches Gebiet ist, wird Ostgalizien, der größere Teil
des Ganzen, von Ruthenen oder Ukrainern bewohnt, die zu demselben ukraini-
schen Volksstamme gehören, der in Süd= und Südwestrußland bis heute auf
50 Millionen herangewachsen ist. Daraufhin beanspruchen die Hanflawisten
den östlichen Teil von Galizien als von Rechts wegen zu Rußland gehörig!
Der Hanslawismus, ursprünglich unter Mikolaus I. mehr eine litera-
rische als eine politische Richtung, entwickelte sich unter Alexander II. zu dem
ausgesprochenen Hrogramm, daß Rußland die Führerschaft über alle slawi-
schen Dölker gebühre. Man kann diese Wendung verstehen, denn Maß-
losigkeit hat seit langem eine Eigenschaft des russischen Wesens gebildet, und
da auf dem Gebiete der inneren Holitik der Absolutismus den nach Betäti-
gung drängenden Kräften der gebildeten russischen Gesellschaft keine Be-
wegungsfreiheit gestattete, so warfen sich diese Kräfte nach außen. Gegen
Osterreich, denjenigen Staat, der nächst Rußland die meisten slawischen
Nationen hatte, war der russische Haß besonders groß, seit die österreichische
Regierung im Krimkriege durch ihre drohende Haltung sich undankbar für
die 1840 geleistete russische Hilfe gegen die ungarische Revolution bewiesen
hatte. Ahnlicher Art waren naturgemäß die russischen Sympathien mit
den unter türkischer Herrschaft befindlichen Slawenvölkern auf der Balkan-
halbinsel, Zulgaren und Serben. Nach dieser Richtung hin verband sich
der panflawistische GSedanke mit dem Bewußtsein der Uberlieferung, daß
Rußland seine Kirche von Byzanz her bekommen habe. Der Erwerb von
Konstantinopel war seit Jahrhunderten ein russischer Traum, und latha-
rina II. hatte daraufhin schon ihren zweiten Enkel Konstantin genannt,
in der Hoffnung, ihn auf den Thron einer in Konstantinopel zu errich-
tenden Seitenlinie des russischen Kaiserhauses setzen zu können. Trotzdem
war ein Türkenkrieg für Rußland eine politisch schwierigere Sache, als ein
Krieg mit Esterreich-Ungarn unter der Voraussetzung, daß Deutschland
Rußland gewähren ließ; denn außer dem zu erwartenden Widerstande der
Türken selbst mußte man darauf gefaßt sein, daß sowohl Gsterreich-Ungarn
als auch England dem russischen Vordringen über den Balkan bestimmt
widersprechen würden.
Das Misßvergnügen der russischen Gesellschaft mit den Suständen
im Inneren und die begehrliche Unruhe des russischen Geistes zwangen
Alexander II. dazu, die gefährliche nationale Gemütsverfassung dadurch ab-
zulenken, daß er doch der Forderung nach einem Türkenkriege zur Befreiung
der Bulgaren nachgab. Diel lieber, weil ungefährlicher, wäre ihm der Krieg
gegen Osterreich und die Eroberung von Cstgalizien zur Befriedigung
des national russischen Ehrgeizes gewesen. Deutschland aber deckte den-
Habsburgischen Staat, und das war die erste Wurzel der politischen Ent-