Full text: Gedanken und Erinnerungen. Neue Ausgabe. Erster Band. (1)

94 Viertes Kapitel: Diplomat. 
  
lich der Kleider. In Paris habe ich erlebt, daß unverständige 
Gewaltthaten gegen Menschenmassen plötzlich stockten, weil sie 
auf „un monsieur décoré“ stießen. Orden zu tragen ist für 
mich, außer in Petersburg und Paris, niemals ein Bedürfniß 
gewesen; an beiden Orten muß man auf der Straße irgend 
ein Band am Rock zeigen, wenn man polizeilich und bürgerlich 
mit der wünschenswerthen Höflichkeit behandelt werden will w. 
Sonst habe ich in jedem Falle nur die durch die Gelegenheit 
gebotnen Decorationen angelegt; es ist mir immer als eine 
Chinoiserie erschienen, wenn ich wahrnahm, wie krankhaft der 
Sammlertrieb in Bezug auf Orden bei meinen Collegen und 
Mitarbeitern in der Bürokratie entwickelt war, wie Geheime 
Räthe, welche schon die ihnen aus der Brust quellende Ordens- 
cascade nicht mehr gut beherrschen konnten, den Abschluß irgend 
eines kleinen Vertrages anbahnten, weil sie zur Vervollständi- 
gung ihrer Sammlung noch des Ordens des mitcontrahirenden 
Staates bedurften. 
Die Mitglieder der Kammern, welche 1849/50 die octroyirte 
Verfassung zu revidiren hatten, entwickelten eine sehr anstren- 
gende Thätigkeit; es gab von 8 bis 10 Uhr Commissions- 
sitzungen, von 10 bis 4 Plenarsitzungen, die zuwcilen auch noch 
in später Abendstunde wiederholt wurden und mit den lang- 
dauernden Fractionssitzungen abwechselten. Ich konnte daher 
mein Bewegungsbedürfniß nur des Nachts befriedigen und er- 
innre mich, manche Nacht zwischen dem Opernhause und dem 
Brandenburger Thore in der Mitte der Linden auf= und ab- 
gewandelt zu sein. Durch einen Zufall wurde ich damals auf 
den gesundheitlichen Nutzen des Tanzens aufmerksam, das ich 
mit 27 Jahren aufgegeben hatte in dem Gefühle, daß dieses 
Vergnügen nur „der Jugend“ anstehe. Auf einem der Hof- 
bälle bat mich eine mir befreundete Dame, ihren abhanden 
) Vgl. u. S. 222.
	        
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