Ein Souper in Versailles. Pariser Hofsitten. 175
keine Reclamation über meine Kartenvertheilung zu hören be-
kommen. Die Unregelmäßigkeit war so groß, daß unser Tisch
nicht voll besetzt wurde, was sich aus dem Mangel einer Ver-
abredung der dames patronesses erklärt. Der alte Fürst Pückler
hatte entweder keine Karte erhalten oder seinen Tisch nicht
finden können; nachdem er sich an mein ihm bekanntes Gesicht
gewandt hatte, wurde er von der Gräfin Walewska auf einen
der leer gebliebenen Plätze eingeladen. Das Souper war trotz
der Dreitheilung weder nach dem Material noch nach der Zu-
bereitung auf der Höhe dessen, was in Berlin bei ähnlichen
Massenfesten geleistet wird; nur die Bedienung war ausreichend
und prompt.
Am auffallendsten war mir der Unterschied in den Anord-
nungen für die Circulation. Das Versailler Schloß bietet
dafür eine viel größre Leichtigkeit als das Berliner vermöge
der größern Zahl und, abgesehn von dem Weißen Saale, der
größern Ausdehnung der Räume. Hier war den Soupirenden
Nro. 1 für ihren Rückzug derselbe Weg angewiesen, wie den
Hungrigen Nro. 2, deren stürmischer Anmarsch schon eine
weniger höfische gesellschaftliche Gewöhnung verrieth. Es kamen
körperliche Zusammenstöße der gestickten und bebänderten Herrn
und reich eleganten Damen vor, die in Handgreiflichkeiten und
Verbalinjurien übergingen, wie sie bei uns im Schlosse un-
möglich wären. Ich zog mich mit dem befriedigenden Eindruck
zurück, daß trotz alles Glanzes des Kaiserlichen Hofes der Hof-
dienst, die Erziehung und die Manieren der Hofgesellschaft bei
uns wie in Petersburg und Wien höher standen als in Paris,
und daß die Zeiten hinter uns lagen, da man in Frankreich
und am Pariser Hofe eine Schule der Höflichkeit und des guten
Benehmens durchmachen konnte. Selbst die, namentlich im Ver-
gleich mit Petersburg, veraltete Etikette kleiner deutscher Höfe
war würdevoller als die imperialistische Praxis. Freilich habe ich
diesen Eindruck schon unter Louis Philipp gehabt, während