Full text: Gedanken und Erinnerungen. Neue Ausgabe. Erster Band. (1)

Erkrankung des Königs. Unterredung mit dem Prinzen v. Preußen. 225 
  
erst nach mehren Tagen für den Aderlaß, der den König wieder 
zum Bewußtsein brachte 0. 
Während dieser Tage, also mit der Möglichkeit eines so- 
sortigen Regirungsantritts vor Augen — am 19. October —, 
machte der Prinz von Preußen mit mir einen langen Spazier- 
gang durch die neuen Anlagen und sprach mit mir darüber, 
ob er, wenn er zur Regirung komme, die Verfassung unver- 
ändert annehmen oder zuvor eine Revision derselben fordern 
solle. Ich sagte, die Ablehnung der Verfassung würde sich 
rechtfertigen lassen, wenn das Lehnrecht anwendbar wäre, nach 
welchem ein Erbe zwar an Verfügungen des Vaters, aber 
nicht des Bruders gebunden sei. Aus Gründen der Politik 
aber riethe ich, nicht an der Sache zu rühren, nicht die mit 
einer, wenn auch bedingten Ablehnung verbundne Unsicherheit 
unfrer staatlichen Zustände herbeizuführen. Man dürfe nicht 
die Befürchtung der Möglichkeit des Systemwechsels bei jedem 
Thronwechsel hervorrusen. Preußens Ansehn in Deutschland 
und seine europäische Actionsfähigkeit würden durch einen Zwist 
zwischen der Krone und dem Landtage gemindert werden, die 
Parteinahme gegen den beabsichtigten Schritt in dem libe- 
ralen Deutschland eine allgemeine sein. Bei meiner Schilderung 
der zu befürchtenden Folgen ging ich von demselben Gedanken 
aus, den ich ihm 1866, als es sich um die Indemnität handelte, 
zu entwickeln hatte ): daß Verfassungsfragen den Bedürfnissen 
des Landes und seiner politischen Lage in Deutschland unter- 
geordnet wären, ein zwingendes Bedürfniß, an der unfrigen 
zu rühren, jetzt nicht vorliege; daß für jetzt die Machtfrage 
und innre Geschlossenheit die Hauptsache sei. 
Als ich nach Sanssouci zurückkam, fand ich Edwin Man- 
teuffel besorglich erregt über meine lange Unterhaltung mit 
1) Man pgl. Prinz Kraft zu Hohenlohe-Ingelfingen, Aus meinem 
Leben II 95 ff. 
2) S. Bd. II, S. 77 f. 
Otto Fürst von Bismarck, Gedauken und Erinnerungen. I. 15
	        
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