Full text: Gedanken und Erinnerungen. Neue Ausgabe. Erster Band. (1)

248 Zehntes Kapitel: Petersburg. 
  
über und hatte bezüglich der Fortsetzung der Hegemonie mehr 
Vertraun zu Franz Joseph als zu seinem eignen Nachfolger w. 
Noch geringer war seine Meinung von der Veranlagung unfres 
Königs Friedrich Wilhelm für die Führerrolle auf dem Ge- 
biete praktischer Politik; er hielt ihn zur Leitung der monar- 
chischen Trias für so wenig geeignet wie den eignen Sohn und 
Nachfolger. Er handelte in Ungarn und in Olmütz in der 
Ueberzeugung, daß er nach Gottes Willen den Beruf habe, 
der Führer des monarchischen Widerstandes gegen die von 
Westen vordringende Revolution zu sein. Er war eine ideale 
Natur, aber verhärtet in der Isolirung der russischen Auto- 
kratie, und es ist wunderbar genug, daß er sich unter allen 
Eindrücken, von den Decabristen ) an durch alle folgenden Er- 
lebnisse hindurch, diesen idealen Schwung erhalten hatte. 
Wie er über seine Stellung zu seinen Unterthanen emp- 
fand, ergibt sich aus einer Tatsache, die mir Friedrich Wil- 
helm 1V. selbst erzählt hat. Der Kaiser Nicolaus bat ihn um 
Zusendung von zwei Unteroffizieren der preußischen Garde, 
behufs Ausführung gewisser ärztlich vorgeschriebener Knetungen, 
die auf dem Rücken des Patienten vorgenommen werden mußten, 
während dieser auf dem Bauche lag. Er sagte dabei: „Mit 
meinen Russen werde ich immer fertig, wenn ich ihnen in's 
Gesicht sehn kann, aber auf den Rücken ohne Augen möchte 
ich mir sie doch nicht kommen lassen.“ Die Unteroffiziere wur- 
den in discreter Weise gestellt, verwendet und reich belohnt. 
Es zeigt dies, wie trotz der religiösen Hingebung des russischen 
Volks für seinen Zaren der Kaiser Nicolaus doch auch dem 
gemeinen Manne unter seinen Unterthanen seine persönliche 
Sicherheit unter vier Augen nicht unbeschränkt anvertraute; 
1) Alexander II. 
:) Decabristen (Decembermänner) nannte man die Theilnehmer an 
einer am 26. Dezember 1825 in St. Petersburg ausgebrochenen Ver- 
schwörung.
	        
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