Unterredung mit Napoleon. Brief an Roon. 295
„Paris, 15. July 62 0.
Lieber Roon,
Ich habe mir neulich viele Fragen darüber vorgelegt, warum
Sie telegraphisch Sich erkundigten, ob ich Ihren Brief vom
26. lv. M.1 2) erhalten hätte. Ich habe nicht darauf geantwortet,
weil ich etwas Neues über den Hauptgegenstand nicht geben,
sondern nur empfangen konnte. Seitdem ist mir ein Courier
zugegangen, der mir seit 14 Tagen telegraphisch angemeldet war
und in dessen Erwartung ich 8 Tage zu früh von England zurück-
kam. Er brachte einen Brief von Bernstorff ), in Antwort auf
ein Urlaubsgesuch von mir. Ich bin hier jetzt überflüssig, weil
kein Kaiser, kein Minister, kein Gesandter mehr hier ist. Ich
bin nicht sehr gesund, und diese provisorische Existenz mit Span-
nung auf „ob und wie ohne eigentliche Geschäfte beruhigt die
Nerven nicht. Ich ging meiner Ansicht nach auf 10 bis 14 Tage
her und bin nun 7 Wochen hier, ohne je zu wissen, ob ich in
24 Stunden noch hier wohne. Ich will mich dem Könige nicht
aufdrängen, indem ich in Berlin vor Anker liege, und gehe nicht
nach Hause, weil ich fürchte, auf der Durchreise durch Berlin
im Gasthof auf unbestimmte Zeit angenagelt zu werden. Aus
Bernstorff's Brief ersehe ich, daß es dem Könige vor der Hand
nicht gefällt, mir das Auswärtige zu übertragen, und daß
Se. Majestät sich noch nicht über die Frage schlüssig gemacht
habe, ob ich an Hohenlohe's Stelle treten soll, diese Frage aber
auch nicht durch Ertheilung eines Urlaubs auf 6 Wochen negativ
präjudiciren will. Der König ist, wie mir Bernstorff schreibt,
zweifelhaft, ob ich während der gegenwärtigen Session nützlich
sein könne und ob nicht meine Berufung, wenn sie überhaupt
ersolgt, zum Winter aufzuschieben sei. Unter diesen Umständen
1) Bismarckbriefe (8. Aufl.) S. 347 ff., Roon's Denkwürdigkeiten
II“ 102ä ff.
) Bismarck-Jahrbuch III 235 f., Roon's Denkwürdigkeiten II/98 ff.
*:) Bismarck-Jahrbuch VI 155ff.