316 Zwölftes Kapitel: Rückblick auf die preußische Politik.
Die Eigenschaft einer Großmacht konnten wir uns vor 1866
nur cum grano salis !) beimessen, und wir hielten nach dem
Krimkriege für nöthig, uns um eine äußerliche Anerkennung
derselben durch Antichambriren im Pariser Congresse zu be-
werben. Wir bekannten, daß wir eines Attestes andrer Mächte
bedurften, um uns als Großmacht zu fühlen. Dem Maßstabe
der Gortschakow'schen Redensart bezüglich Italiens „une grande
puissance ne se reconnait pas, elle se révèle“) fühlten wir
uns nicht gewachsen. Die révélation, daß Preußen eine Groß-
macht sei, war vorher zu Zeiten in Europa anerkannt gewesen
(ogl. Kapitel 5), aber sie erlitt durch lange Jahre kleinmüthiger
Politik eine Abschwächung, die schließlich in der kläglichen Rolle,
welche Manteuffel in Paris übernahm, ihren Ausdruck fand.
Seine verspätete Zulassung konnte die Wahrheit nicht ent-
kräften, daß eine Großmacht zu ihrer Anerkennung vor allen
Dingen der Ueberzeugung und des Muthes, eine solche zu sein,
bedarf. Ich habe es als einen bedauerlichen Mangel an Selbst-
bewußtsein angesehn, daß wir nach allen uns widerfahrnen
Geringschätzungen von Seiten Oestreichs und der Westmächte
überhaupt das Bedürfniß empfanden, auf dem Congresse zu-
gelassen zu werden und seinen Beschlüssen unfre Unterschrift
hinzuzufügen. Unsre Stellung 1870 in den Londoner Be-
sprechungen über dos Schwarze Meer würde die Richtigkeit
dieser Ansicht bezeugt haben, wenn Preußen sich nicht in den
Pariser Congreß in würdeloser Weise eingedrängt hätte. Als
Manteuffel aus Paris zurückkehrte und am 20. und 21. April
in Frankfurt mein Gast war, habe ich mir erlaubt, ihm mein
Bedauern darüber auszusprechen, daß er nicht das victa Catonis)
zur Richtschnur genommen und uns die richtige unabhängige
1) Mit Einschränkung (wörtlich: mit einem Körnchen Salz).
2) Eine Großmacht wird nicht anerkannt, sie offenbart sich selbst
als solche.
2) S. o. S. 199.