Full text: Gedanken und Erinnerungen. Neue Ausgabe. Erster Band. (1)

332 Dreizehntes Kapitel: Dynastien und Stämme. 
  
einer Dynastie, der er anhängt, oder einer Reizung, die in ihm 
den Zorn weckt, der zu Thaten treibt. Letztre Erscheinung ist 
aber ihrer Natur nach keine dauernde Institution. Als Preuße, 
Hanoveraner, Würtemberger, Baier, Hesse ist er früher bereit, 
seinen Patriotismus zu documentiren wie als Deutscher; und 
in den untern Klassen und in Parlaments-Fractionen wird es 
noch lange dauern, ehe das anders wird. Man kann nicht sagen, 
daß die hanöversche, die hessische Dynastie und andre sich be- 
sonders bemüht hätten, sich das Wohlwollen ihrer Unterthanen 
zu erwerben, aber dennoch wird der deutsche Patriotismus der 
letztern wesentlich bedingt durch ihre Anhänglichkeit an die 
Dynastie, nach welcher sie sich nennen. Es sind nicht Stammes- 
unterschiede, sondern dynastische Beziehungen, auf denen die 
centrifugalen Elemente ursprünglich beruhn. Es kommt nicht 
die Anhänglichkeit an schwäbische, niedersächsische, thüringische 
Eigenthümlichkeit zur Hebung, sondern die durch die Dynastien 
Braunschweig, Brabant, Wittelsbach zu einem dynastischen An- 
theil an dem Körper der Nation gesonderten Convolute der 
Herrschaft einer fürstlichen Familie. Der Zusammenhang des 
Königreichs Baiern beruht nicht nur auf dem bajuvarischen 
Stamme, wie er im Süden Baierns und in Oestreich vorhanden 
ist, sondern der Augsburger Schwabe, der Pfälzer Alemanne 
und der Mainfranke, sehr verschiednen Geblüts, nennen sich mit 
derselben Genugthuung Baiern, wie der Altbaier in München 
und Landshut, lediglich weil sie mit den letztern durch die ge- 
meinschaftliche Dynastie seit drei Menschenaltern verbunden sind. 
Die am meisten ausgeprägten Stammeseigenthümlichkeiten, die 
niederdeutsche, plattdeutsche, sächsische, sind durch dynastische Ein- 
flüsse schärfer und tieser als die übrigen Stämme geschieden. 
Die deutsche Vaterlandsliebe bedarf eines Fürsten, auf den sich 
ihre Anhänglichkeit concentrirt. Wenn man den Zustand fingirte, 
daß sämmtliche deutsche Dynastien plötzlich beseitigt wären, so 
wäre nicht wahrscheinlich, daß das deutsche Nationalgefühl alle
	        
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