Ablehnung der Kaiserkrone. Parteileben sonst und jetzt. 65
und sachliche, als nicht reif zur Uebernahme der Führung in
Deutschland in Krieg und Frieden bezeichne, so will ich damit
nicht gesagt haben, daß ich damals die Voraussicht davon mit
derselben Klarheit gehabt habe, wie heut im Rückblick auf eine
40 jährige seitdem verflossene Entwicklung. Meine damalige
Befriedigung über die Ablehnung der Kaiserkrone durch den
König lag nicht in der vorstehenden Beurtheilung seiner Person,
eher in einer stärkern Empfänglichkeit für das Prestige der
Preußischen Krone und ihres Trägers, noch mehr aber in dem
instinctiven Mißtrauen gegen die Entwicklung seit den Barri-
kaden von 1848 und ihren parlamentarischen Consequenzen 7.
Den letztern gegenüber war ich mit meinen politischen Freun-
den unter dem Eindruck, daß die leitenden Männer in Parla-
ment und Presse das Programm „es mufß alles ruinirt wer-
den“ zum Theil bewußt, zum größern Theile unbewußt för-
derten und ausführten und daß die vorhandnen Minister nicht
die Männer waren, welche die Bewegung leiten oder hemmen
konnten. Mein Standpunkt dazu unterschied sich damals nicht
wesentlich von dem noch heut in Kraft stehenden eines parla-
mentarischen Fractionsmitgliedes, begründet auf Anhänglichkeit
an Freunde und Mißtrauen oder Feindschaft gegen Gegner.
Die Ueberzeugung, daß der Gegner in Allem, was er vor-
nimmt, im besten Falle beschränkt, wahrscheinlich aber böswillig
und gewissenlos ist, und die Abneigung, mit den eignen Frac-
tionsgenossen zu dissentiren und zu brechen, beherrscht noch heut
das Fractionsleben; und damals waren die Ueberzeugungen,
auf denen diese dem Staatsleben gefährlichen Erscheinungen
beruhn, sehr viel lebhafter und ehrlicher, als sie heut sind. Die
Gegner kannten sich damals wenig, sie haben seitdem 40 Jahre
lang Gelegenheit gehabt, sich kennen zu lernen, da der Per-
sonalbestand der im Vordergrunde stehenden Parteimänner sich
1) Man vergl. die Rede vom 21. April 1849 in Bismarck's politi-
schen Reden 1 85 ff.
Otto Fürst von Bismarck, Gedanken und Erinnerungen. I. 5