66 Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dredden.
nur langsam und wenig zu ändern pPflegt. Man hielt sich da-
mals wirklich gegenseitig für entweder dumm oder schlecht,
man hatte wirklich die Gefühle und Ueberzeugungen, die man
heutzutage behufs Einwirkung auf die Wähler und auf den
Monarchen zu haben vorgiebt, weil sie zu dem Programm
gehören, auf welches hin man in einer bestimmten Fraction
Dienst genommen hat, „eingesprungen“ ist, indem man an
deren Berechtigung geglaubt und ihren Führern vertraut hat.
Das politische Streberthum hat heut mehr Antheil an dem
Bestehn und Verhalten der Fractionen als vor 40 Jahren;
die Ueberzeugungen waren damals aufrichtiger und ungeschulter,
wenn auch die Leidenschaften, der Haß und die gegenseitige
Mißgunst der Fractionen und ihrer Führer, die Neigung, die
Landesinteressen den Fractionsinteressen zu opfern, heut viel-
leicht stärker entwickelt sind. En tout cas le diable n’y perd
rien!). Byzantinismus und verlogne Speculation auf Lieb-
habereien des Königs wurden wohl in kleinen höhern Kreisen
betrieben, aber bei den parlamentarischen Fractionen war der
Wettlauf um die Gunst des Hofes noch nicht im Gange; der
Glaube an die Macht des Königthums war irrthümlicher Weise
meist geringer als der an die eigne Bedeutung; man fürchtete
nichts mehr, als für servil oder für ministeriell zu gelten ?.
Die Einen strebten nach eigner Ueberzeugung das Königthum
zu stärken und zu stützen, die Andern glaubten ihr und des
Landes Wohl in Bekämpfung und Schwächung des Königs zu
finden; es liegt darin ein Beweis, daß, wenn nicht die Macht,
doch der Glaube an die Macht des preußischen Königthums
damals schwächer war als heut zu Tage. Die Unterschätzung
der Macht der Krone erlitt auch durch die Thatsache keine
Aenderung, daß der persönliche Wille eines nicht sehr willens-
1) Sprichwörtliche Redensart, vgl. Dictionnaire de I/Académie unter
diable.
2) VUgl. Bismarck's politische Reden IV 165; IX 158.