Bedenken und Hintergedanken Friedrich Wilhelms IV. 69
Potenz der obern Zehntausend in der Presse und auf der Tri-
büne ist von einer zu großen Mannigfaltigkeit sich kreuzender
Bestrebungen und Kräfte getragen und geleitet, als daß die
Regirungen aus ihr die Richtschnur für ihr Verhalten ent-
nehmen könnten, so lange nicht die Evangelien der Redner
und Schriftsteller vermöge des Glaubens, den sie bei den
Massen finden, die materiellen Kräfte, die sich „hart im Raume“ h)
stoßen, zur Verfügung haben. Ist dies der Fall, so tritt vis
major ein, mit der die Politik rechnen muß. So lange diese
in der Regel nicht schnell eintretende Wirkung nicht vorliegt,
so lange nur das Geschrei der rerum novarum cupich in größern
Centren, das Emotionsbedürfniß der Presse und des parla-
mentarischen Lebens den Lärm machen, tritt für den Real=
politiker die Betrachtung Coriolan's über populäre Kund-
gebungen?) in Kraft, wenn auch in ihr die Druckerschwärze noch
keine Erwähnung findet. Die leitenden Kreise in Preußen
ließen sich aber damals durch den Lärm der großen und kleinen
Parlamente betäuben, ohne deren Gewicht an dem Barometer
zu messen, den ihnen die Haltung der Mannschaft in Reih und
Glied oder der Einberufung gegenüber an die Hand gab. Zu
der Täuschung über die realen Machtverhältnisse, die ich da-
mals bei Hofe und bei dem Könige selbst habe constatiren
können, haben die Sympathien der höhern Beamtenschichten
theils für die liberale, theils für die nationale Seite der Be-
wegung viel beigetragen — ein Element, das ohne Impuls
von oben wohl hemmend, aber nicht thatsächlich entscheidend
in's Gewicht fallen konnte.
Gegenüber der Versuchung, die in der Situation lag, hatte
der König ein Gefühl, welches ich dem Unbehagen vergleichen
möchte, von dem ich, obwohl ein großer Liebhaber des Schwim-
1) Vgl. Schiller, Wallenstein's Tod II 2: „Leicht bei einander wohnen
die Gedanken ] Doch hart im Raume stoßen sich die Sachen.“
2) Vgl. Shakespeare, Coriolan 1. Aufz. 1. Auftr.