72 Drittes Kapitel: Erfurt, Olmütz, Dresden.
glaube noch heut, daß die Chancen für eine wünschenswerthe
Lösung der damaligen Krifis noch besser geworden wären, wenn
vorher die badische Revolution durch den damals befürchteten
Abfall auch eines Theils der bairischen und würtembergischen
Truppen verstärkt worden wäre. Freilich würden sie auch
dann vielleicht unbenutzt geblieben sein.
Ich lasse unentschieden, ob an der Halbheit und Schüch-
ternheit der damals den ernsten Gefahren gegenüber ergriffnen
Maßregeln nur finanzielle Minister-Aengstlichkeiten oder dy-
nastische Gewissensbedenken und Unentschlossenheit an höchster
Stelle Schuld waren oder ob in amtlichen Kreisen eine ähn-
liche Sorge mitwirkte wie die, welche in den Märztagen bei
Bodelschwingh und Andern die richtige Lösung verhinderte,
nämlich die Befürchtung, daß der König in dem Maße, in dem
er sich wieder mächtig und sorgenfrei fühlen würde, auch eine
absolutistische Richtung einschlagen könnte. Ich erinnre mich,
diese Besorgniß bei höhern Beamten und in liberalen Hof-
kreisen wahrgenommen zu haben.
Unbeantwortet ist die Frage geblieben, ob der Einfluß des
Generals von Radowitz aus katholisirenden Gründen in einer
auf den König wirksamen Gestalt verwendet worden ist, um
das evangelische Preußen an der Wahrnehmung der günstigen
Gelegenheit zu hindern und den König über dieselbe hinweg
zu täuschen. Ich weiß noch heut nicht, ob er ein katholisiren-
der Gegner Preußens war oder nur bestrebt, seine Stellung
bei dem Könige zu halten ). Gewiß ist, daß er den geschickten
X) Der General von Gerlach hat im August 1850 niedergeschrieben
(Denkwürdigkeiten 1 514):
„Die Verehrung des Königs für Radowitz beruht auf zwei Dingen:
1) seinem scheinbar scharf logisch-mathematischen Raisonnement, bei dem
seine gedankenlose Indifferenz es ihm möglich macht, jeden Widerspruch
mit dem Könige zu vermeiden. Nun sieht der König in dieser seinem
Ideengange ganz entgegengesetzten Denkart die Probe für das Exempel,
was er sich zusammengerechnet, und hält sich so seiner Sache gewiß.