Full text: Bernhard Fürst von Bülow - Denkwürdigkeiten. Erster Band. Vom Staatsseketariat bis zur Marokko-Krise. (1)

GOLUCHOWSKI GEREIZT GEGEN ITALIEN 627 
Festsetzung der Russen in Konstantinopel zulassen könne. Der Minister 
stimmte mir zu, als ich ihm sagte, die Dardanellenfrage wäre eine euro- 
päische Frage; Österreich habe gar keinen Grund, sich mit besonderem 
Eifer in dieser Richtung in Gegensatz zu Rußland zu stellen, sondern möge 
lieber die Westmächte vorgehen lassen. Das verständige Leitmotiv des 
Grafen Goluchowski war, daß wir den Status quo auf der Balkanhalbinsel 
so lange als möglich aufrechterhalten und durch eine geschickte Politik die 
Orientalische Frage langsam und „etappenweise“‘ lösen sollten. Die türkische 
Herrschaft müsse allmählich durch autonome Staatswesen ersetzt werden, 
ein möglichst großes Griechenland, ein großes Bulgarien, ein starkes Ru- 
mänien, ein schwaches Serbien, ein bescheidenes, weil kleines Montenegro, 
ein selbständiges Albanien. 
Wie alle österreichischen Kavaliere und Militärs sprach Goluchowski 
sehr gereizt über das Verhältnis zwischen Österreich und Italien, über den 
italienischen Irredentismus und die italienische Propaganda in Albanien. 
Ich erwiderte ihm, daß ich bei einem Besuch in Lugano vor Jahren auf dem 
dortigen Marktplatz einen Obelisk erblickt hätte, der zur Feier der Vereini- 
gung des Kantons mit der Schweiz errichtet worden wäre. Er trüge die 
Inschrift: „Sempre liberi, sempre Svizzeri!““ Wenn ein solcher Obelisk in 
Triest errichtet werden könnte, gäbe es keinen Irredentismus mehr. Das 
Ideal des Grafen Goluchowski wäre die Ersetzung des Dreibunds durch ein 
Dreikaiserbündnis gewesen — eine Gruppierung, der auch Fürst Bismarck 
vor allen anderen den Vorzug gab, die aber seit der Kündigung unseres 
Rückversicherungsvertrages mit Rußland außerhalb des Bereiches der 
praktischen Möglichkeit lag. Merkwürdig erscheint mir in der Erinnerung, 
daß Goluchowski, der einen großen Teil seines Lebens in Paris verbracht 
hatte, der mit einer Französin verheiratet war und zahlreiche Verbindungen 
in Frankreich besaß, mir 1903 eine wirkliche und dauernde Annäherung 
zwischen Frankreich und England als völlig unmöglich bezeichnete. 
Zwischen beiden stünden zu viele reale Interessengegensätze und störende 
Erinnerungen. 
Kaiser Franz Josef, der mich mit gewohnter Huld empfing, sprach 
gleichfalls mit Sympathie von Lambsdorfl, dagegen über Italien noch 
gereizter als sein Minister. Als vornehmer und galanter alter Grand- 
seigneur lobte er die Königin Elena, die eine schöne und sympathische 
Frau wäre, fand dagegen ihren Gatten zu ehrgeizig, zu aktiv. Mit 
König Humbert wären gute Beziehungen leichter aufrechtzuerhalten 
gewesen. Während Goluchowski seinem Naturell entsprechend die Situa- 
tion eher optimistisch beurteilte, als Jean qui rit, war der alte Kaiser, 
obwohl er körperlich wohl aussah, offenbar in gedrückter Stimmung, mehr 
Jean qui pleure. 
40° 
Empfang bei 
Franz Josef
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.