OHNMACHTSANFALL BÜLOWS 213
Wäbrend Bebel sprach, wurde ich von einer Ohnmacht befallen. Bcebel,
der mir als Mensch nicht mißfiel und von dem ich glaube, daß er ein gutes
Herz hatte, ließ mir später durch unseren gemeinsamen Freund, den Ver-
treter der „Frankfurter Zeitung‘, August Stein, sagen, er bedaure, daB
die Wucht seiner Angriffe die Schuld an meiner Ohnmacht getragen hätte.
Diese Selbstanklage war unbegründet. Der gute Bebel, der in den letzten
Jahren schr gealtert hatte, auch, wie ich gern anerkenne, sich in rastloser
Agitation für die von ihm als richtig betrachteten Ziele verzehrte, hatte am
5. April 1906 recht matt gesprochen. Mein Unwohlsein war lediglich darauf
zurückzuführen, daß ich während des ganzen Winters und speziell während
der letzten Wochen, mit Arbeiten überhäuft, meinen Schlaf zu sehr ver-
kürzt hatte. In den letzten Tagen vor jener Reichstagssitzung ging ich
selten vor zwei Uhr, manchmal drei Uhr nachts zu Bett und mußte, um den
Kaiser, der sehr früh bei mir vorzusprechen pflegte, zu empfangen, schon
um sieben Uhr wieder aufstehen. Richtig ist nur, daß das letzte, was ich
mit vollem Bewußtsein sah, das von einem schon stark ergrauten Bart
umrahmte, nicht unsympathische Gesicht von August Bebel und seine
lebhaften und intelligenten Augen waren. Im übrigen kann ich nur sagen,
daß das Gefühl, mit dem ich in Ohnmacht fiel, angenehm war.
Des Geistes Flutstrom ebbet nach und nach,
Ins hohe Meer werd’ ich hinaus gewiesen.
Die Spiegelilut erglänzt zu meinen Füßen,
Zu neuen Ufern lockt ein neuer Tag.
Ein Feuerwagen schwebt auf leichten Schwingen
An mich heran! Ich fühle mich bereit,
Auf neuer Bahn den Äther zu durchdringen
Zu neuen Sphären reiner Tätigkeit.
Als ich wieder erwachte, befand ich mich außerhalb des Sitzungssaales,
in dem für den Reichskanzler bestimmten Büro. Das Zimmer war von
Menschen angefüllt, die mir teile die Hände rieben, teils die Füße, nachdem
sie mir Stiefel und Strümpfe ausgezogen hatten. Andere flößten mir
Kognak ein, noch andere einen greulichen heißen Zichorienkaffee. Ich hörte
deutlich, wie meine verehrten Kollegen, die Minister, sich darüber unter-
hielten, wer mein Nachfolger, oder wenn mit einer längeren Beurlaubung
zu rechnen wäre, Vizekanzler werden würde. Der einzige, der den Kopf
nicht verlor, war Geheimrat Hammann. Ich habe ihm das nicht vergessen
und ihn, als er nicht lange vor meinem Rücktritt in eine schwierige Situation
geriet, meinerseits gehalten. Hammann trieb Minister, Abgeordnete und
Journalisten aus meinem Zimmer und telephonierte nach meiner Frau
und nach meinem ausgezeichneten Arzt und Freund, dem Geheimen Rat
Der
Zwischenfall
vom 5. April
1906