Die Vehmgerichte. 275
Vögeln der Luft ihn zu verzehren, und befehle seine Seele Gott im
Himmel in seine Gewalt, wenn er sie zu sich nehmen will und setze sein
Leben und Gut ledig, sein Weib soll Wittwe, seine Kinder Waisen sein.“
Hierauf nahm der Freigraf den Strick von Weiden geflochten und warf
ihn aus dem Gerichtsplatze, und alle Freischöffen, die um den Gerichts-
stuhl standen, spieen aus, als ob man den Vervehmten zur Stunde
henkte. Nachdem dies geschehen, ermahnte der Freigraf alle andern Frei-
grafen und Freischöffen bei ihren Eiden und Treuen, die sie der heim-
lichen Acht gethan, daß, sobald ste den vervehmten Mann bekommen, sie
ihn an den nächsten Baum hängen sollten. Zum Zeichen, daß der Ge-
hängte ein Vervehmter wäre, wurde gewöhnlich ein Messer in den Baum
gesteckt. Die Acht wurde geheim gehalten, weil sich sonst der Vervehmte
dem Vollzuge der Acht durch die Flucht entzogen hätte; wer sie verrieth
oder durch gewisse Formeln, z. B. es sei anderswo ebenso gut Brod
essen als hier, eine Andeutung gab, verfiel dem Strange. Desgleichen
Strafe traf den, der „die Herrlichkeit“ (die Gerichtssatzungen) oder die
geheime Losung der Schöffen, ihre Begrüßungsworte u. s. w. verrieth,
denn sie hatten geschworen, sie zu bewahren „vor Weib und Kind, Sand
und Wind“. Der Vollstrecker des Urtheilsspruchs war zunächst der An-
kläger, der den Spruch geschrieben und gesiegelt erhielt; jeder Wissende
war aber verpflichtet, die Hinrichtung zu vollziehen. (Das Siegel war
ein vollständig gewappneter Ritter.)
Die Vehmgerichte des Mittelalters erinnern unwillkürlich an die
Lpnchgerichte, wie sie z. B. die nordamerikanische Bevölkerung abhält,
wenn die ordentlichen Gerichte die öffentliche Sicherheit nicht zu erhalten
im Stande sind; dann bildet sich ein massenhaftes Volksgericht, urtheilt
über einen wegen Mord oder Raub oder Diebstahl Festgenommenen und
benkt denselben augenblicklich, wenn sie ihn für schuldig hält. Ob diese
tumultuarische Volksjustiz der Neuzeit wirklich die Verbrecher erreicht
oder sie verscheucht, wie behauptet wird, mag dahin gestellt sein, die
beimlichen Gerichte der mittelalterlichen Vehme haben jedenfalls wenig
genützt; denn gerade zur Zeit ihrer weitesten Verbreitung trieben die
Adeligen ganzer Landstriche die Weglagerei als förmliches Gewerbe, wie
urkundlich nachzuweisen ist, und wimmelte ganz Deutschland von Räuber-
und Mörderbanden, daher kann die Vehme nicht so furchtbar gewesen
sein, als sie in Romanen und Dramen zu erscheinen pflegt. Sie mußte
natürlich ihre Bedeutung verlieren, sobald die ordentlichen Gerichte ihre
Mflicht zu erfüllen im Stande waren, denn alsdann widersetzten sich der
Kaiser, sowie die Landesherren und Reichsstädte dem Eingreifen fremder
Gerichte in den gesetzlichen Rechtsgang in dem Gebiete ihrer Jurisdik-
tion; das letzte Vehmgericht soll 1568 bei Celle gehalten worden sein,
dem Namen nach aber bestand ein Freistuhl bis 1792.
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