— 322 —
Der Fall war folgender:
Die Wittwe K., geb. U., seit 1. April 1872 in Steltin wohnhaft, ist nicht im Stande sich
und ihre fünf Kinder unter 14 Jahren zu ernähren, und erhält selt dem 1. Dezember v. Is. vom
Kläger eine monatliche Armenunterstützung von 2 Thlr. Dle Wittwe K. hat mit ihrem Ehemanne,
dem Müller K., vom Frühjahr 1869 bis 1. August 1870 in Pützerlin bei Stargard in Pommern,
vom August 1870 bis August 1871 in Gollnow, vom August 1871 bis 12. November 1871 in
Grabow gewohnt. An diesem Tage ist ihr Mann in Grabow gestorben, sie selbst hat dann noch
bis 1. April 1872 in Grabow gewohnt und hält sich seit dieser Zeit in Stettin auf.
Kläger hält den Verklagten zur Erstattung der von ihm für die Wittwe K. aufgewendeten
und aufzuwendenden Kosten für verpflichtet, weil diese von ihrem zuletzt besessenen Unterstützungs-
wohnsitz — Püherlin — seit 1. August 1870 ununterbrochen abwesend, dadurch nach §. 16 und
88. 22 und 23 des Bundesgesetzes vom 6. Juni 1870 den dortigen Unterstützungswohnsitz verloren
und einen neuen nicht erworben habe. Verklagter verweigert die Erstattung und behauptet, daß die
Wittwe K. noch jetzt ihren Unterstützungswohnsitz in Pützerlin habe. Denn wenn F. 16 des Bundes-
gesetzes vom 6. Juni 1870 bestimme, daß die Wiltwe von dem Tode ihres Ehemannes an den bei
Auflösung der EChe gehabten Unterstötzungswohnsizz so lange behalte, bis sie denselben nach den
Vorschriften der §§. 22 Nr. 2, 23 bis 27 a. a. O. verloren oder einen anderweiten Unterstützungs=
wohnsitz nach Iheit der §5. 9 bis 14 erworben habe, so setze das Gesetz hier einen Erwerb resp.
Verlust roraus, welcher durch die nunmehrige Selbstständigkeit der Wittwe und kraft eigenen Rechis
derselben herbeigeführt sei. Seit dem am 12. November 1871 erfolgten Tode des Ehemannes habe
die Wittwe den Unterstützungswohnsitz des Ehemannes nach den für ehständige Personen geltenden
Regeln noch nicht verlieren und einen anderen noch nicht erwerben können.
Kläger ist dagegen der Ansicht, daß die Zeit, während welcher die Frau in Gemeinschaft mit
ihrem Manne von dem früheren Unterstützungswohnsitz abwesend gewesen, mit zur Berechnung zu
Rehen und letzterer daher erloschen sei.
Dieser Ansicht ist der erste Nichter belgetreten, indem er Folgendes ausführt:
„Nach §. 16 des Dundesesetes behalten Wittwen den bei Auflösung der Ehe gehabten Unter-
stbtzungswohnsitz, bis sie denselben nach den Vorschriften dieses Gesetzes verloren oder einen ander-
weitigen Unterstlützungswohnsitz erworben haben. Diese Bestimmung ist so zu verstehen, daß
Wittwen beim Tode ihres Ehemannes den Unterstützungswohnsitz desselben in dem Umfange und
Rechtsverhältnib5 behalten, mit welchem ihn der Ehemann besessen hat, und dazu gehört auch der
begonnene Lauf der zweijährigen Verjährung. Ein neues Rechtsverhallniß und die Beseitigung der
laufenden Verjährung hat dadurch zu Ungunsten des bisherigen Unterstützungswohnsihes nicht herbei-
geiiht werden sollen. Allerdings ist die Wiütwe beim Tode des Mannes selbstständig und im Stande,
durch eigene Handlungen den Unterstützungswohnsitz des Mannes zu verlieren und resp. einen eigenen
anderwelligen Unterstützungswohnsitz zu begründen, aber die Verlustsrist, welche beim Tode des
Mannes zu laufen begonnen hatte, wird durch den Tod nicht unterbrochen. Elne desfallsige Vor-
schrift besteht nicht (§§. 22 bis 27 des Vundesgesetzes), und ist aus dem allgemcinen Rechtsverhält-
niß auch eine solche Folgerung nicht zu ziehen. Der Unterstützungswohnsitz, welchen die Wittwe K.
belm Tode ihres Ehemannes in Pützerlin hatte, ist durch zweijährige Abwesenheit erloschen und ein
anderweitiger Unterstützungswohnsitz von ihr nicht erworben.“
Hiernach hat der erste Nichter den Verklagten dem Klageantrage gemäß verurtheilt.
Das Bundesamt für das Heimathwesen hat jedoch unter Abänderung dieser Entscheidung den Kläger
abgewiesen aus folgenden
Gründen:
Die Ansicht des ersten Richters, daß bei der Beurtheilung, ob elne Witlwe den bei Auflösung
der Ehe gehabten Unterslützungswohnsitz durch zweijährige Abwesenhelt verloren habe, die Zeit mit
zur Berechnung zu bringen sei, während welcher sie in Gemeinschaft mit ihrem damals noch lebenden
Manne von dem Orte abwesend gewesen ist, wo dieser einen Unterstützungswohnsitz erworben hatte,
kann nicht als richtig anerkannt werden. Seine Ausführung gipfelt in dem Satze: der §. 16 des
Neichsgesetzes vom 6. Juni 1870 sei so zu verstehen, daß Wittwen belm Tode ihres Ehemannes
den Unterstützungswohnsitz desselben in dem Umfange und Rechtsverhältnisse behlelten, mit