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4. Heimath-Wesen.
Der in Nieder-Seemen ortsangehörige Tagelöhner N. N. ist im Rochus-Spital zu Frankfurt a./M. ärztlich
behandelt und verpflegt worden. Nieder-Seemen verweigerte Ersatz der mit 14 Gulden liquidirten Kurkosten
unter Vezugnahme auf §. 29 des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870, weil N. N. zu Frankfurt a./M. im Dienste
gestanden habe und am Orte seines Dienstverhältnisses erkrankt sei. Außerdem wurde eingewendet, daß N. Nç.
nach seiner Erkrenkung süglich habe in die Heimath relsen können und daß für Frankfurt a./M. keine Veran-
lassung vorgelegen habe, sich um ihn zu kümmern. Letztere Einwendung wies Kläger mit der Bemerkung zurück,
daß er sich einer Pflichtverletzung schuldig gemacht haben würde, wenn er dem kranken N. N. die nachgesuchte
Aufnahme in das Hospltal nicht hätte bewilligen wollen. Den zuerst gedachten Einwand bekämpfte Kläger mit
der durch die eigene Aussage des N. N. bescheinigten Behauptung, daß derselbe zwar bis 26. Dezember 1872
bei dem Fuhrmann K. in Arbelt gestanden habe, seitdem aber dienst-- und arbeitslos gewesen sei. Uebrigens
habe N. N. auch nicht im Dienste des K. gestanden, sondern wle durch ein Altest des Letzteren bewiesen werden
soll, nur als Tagelöhner bei ihm gearbeitet.
Den Einwand aus §. 29 des Reichsgesetzes erachtete der Großherzogliche hessische Administrativ-Justiz-
hof zu Darmstadt für begründet und wies die Klage ab. Nach seiner Ansicht findet die Vorschrist des §. 29
cit. auch Anwendung auf momentan dienst= resp. arbeitslose Personen, welche sich erkennbar einer unselb-
ständigen Thätigkeit am Orte der Erkrankung gewidmet haben. Ob unselbständige Arbeiter im Verhältnisse
der Tagelöhner ständen oder im Eesindeverhahmsse. außer dem Lohne auch Wohnung und Kost empfingen,
mache dabei keinen Unterschied.
Die hlergegen eingelegte Berufung des Klägers hat das Bundesamt für das Heimathwesen durch urtel
vom 3. November 1873 für begründet erachtet und diese Entscheidung, wie folgt, motivirt:
Der erste Richter hält sich nach dem Inhalte des Berichtes der Reichstags-Kommission für
berechtigt, der auf §. 29 des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870 beruhenden Verpflichtung. des Dienst-
ortes eine Ausdehnung zu geben, welche weit über den Wortsinn des Gesetzes und die aus dem-
selben erkennbare Intention des Gesetzgebers hinaus geht. Der Wortlaut des §. 29 verpflichtet
den Armenverband des Dienstortes zu temporär nnentgeltlicher Krankenpflege für am Orte des
Dienstverhältnisses erkrankte Gewerbegehilfen, Gesellen, Lehrlinge und Personen, welche im Gesinde-
dienste stehen, erstreckt die Verpflichtung also nicht auf gewöhnliche Tagelöhner, welche in keinem
Dienstverhältnisse stehen und eben so wenig auf dienende Personen, welche nach Auflösung des
Dienstverhältnisses Fusebedarüg erkranken, also bei der Erkrankung nicht mehr im Dienste stehen.
Die versuchte Erweiterung des Umfanges der Verpflichtung ist daher unzulässig und zwar um so
mehr, als exzeptionelle Gesetzesvorschriften nach bekannter Regel strikt zu interpretiren sind. Aller-
dings begründet der Bericht der Reichstags-Kommission (Stenographische Reichstagsverhandlungen
von 1870, Bd. IV p. 579 f.) die exzeptionelle Verpflichtung des Dienstortes gegenüber den An-
griffen, welche sie erfahren hatte, auch damit, daß die in §. 29 aufgeführten Personen häufig ihren
Aufenthaltsort wechseln, und daß es billig sei, den Ort ihrer wirthschaftlichen Thätigkeit in gewissem
Umfange zur ersatzlosen Leistung der Armenpflege heranzuziehen. Alleln daraus folgt nicht, daß die
Kommission auf alle Perfonen, welche nach ihrer Beschäftigung den Aufenthaltsort häufig verändern,
die Verpflichtung des Dienstortes hat ausdehnen wollen. Wäre dies die Absicht gewesen, so würden
nicht einzelne Kategorien dieser Personen herausgegriffen und ausschließlich genannt worden sein.
Und eben so wenig folgt aus den angeführten Motiven, daß temporär unentgeltliche Krankenpflege
auch densenigen Personen gewährt werden sollte, welche am Orte eines früher bestandenen Dienst-
verhältnisses hilfsbedürftig erkranken.
Kann daher §. 29 des Reichsgesetzes auf den vorliegenden Fall keine Anwendung finden, in
welchem der Verpflegte, selbst wenn er in einem Dienstoerhältnisse gestanden hätte, erst 14 Tage