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des Knaben in Lippehne Anlaß gab, während seines Umhertreibens nicht fortgedauert, sondern ist
mit der Entweichung des Knaben erloschen, und erst in Frankfurt a. O. auherhalt des Bezirks des
Verklagten wieder hervorgetreten.
Mit Recht findet sich Kläger durch diese Entscheidung beschwert.
Die Fürsorgepflicht des Landarmenverbandes wird nach §. 30. Lit. b. des Reichsgesetzes vom
6. Juni 1870 durch den Eintritt der Hilfsbedürftigkeit im Bezirke desselben begründet, und für die
ganze Dauer der Hilfsbedürftigkeit fixirt. Verklagter würde daher der ferneren Fürsorge nur ent-
hoben sein, wenn der entlaufene Knabe nach seiner Entweichung öffentlicher Unterstützung nicht mehr
bedurft hätte.
Thatsächlich steht fest, elnerseits, daß der Knabe vom 13.—26. Januar 1873 ohne öffentliche
Unterstützung sich ernährt hat, bevor er in Frankfurt der Armenpflege wieder anheimfiel, anderer-
seits, daß er während dieser Zeit vermöge seiner Erwerbsunfählgkeit ebenso auf öffentliche Unter-
stützung angewiesen war, wie vorher in Lippehne und nachher in Frankfurt. Es fragt sich nur, ob
die faktische Unterbrechung der Armenpflege in jenen 13 Tagen gleichwohl als Unterbrechung der
Hilfsbedürstigkeit angesehen werden muß. Diese Frage ist zu vernelnen. Handelt es sich um Fest-
stellung des Zeitpunktes, zu welchem die Hilfsbedürftigkelt zuerst hervorgetreten ist, so entscheidet
allerdings in der Regel der Eintritt der Armenpflege, da ohne Anerkenntniß der Hilfsbedürstigkei
seitens eines Armenverbandes oder der vorgesetzten Behörde die thatsächlich vorhandene Noth-
wendigkeit der Unterstützung nicht konstatirt erscheint. In diesem Zusammenhange hat das Bundes-
amt mehrfach ausgesprochen, daß eine Hülfsbedürftigkeit armenrechtlich nicht eher in Betracht kommt,
bis sie der Armenbehörde gegenüber durch Inanspruchnahme öffentlicher Unterstützung oder sonst in
die Erscheinung tritt und als bestehend thatsächlich anerkannt ist. Allein ebenso wie der Zeitpunkt
des ersten Hervortretens der Hilfsbedürftigkeit mit dem Zeitpunte des Eintritts der Unterstützung
nicht nothwendig zusammenfällt, z. B. wenn die Unterstützung ungerechtfertigt verzögert worden ist
(Entscheidungen des Bundesamts Heft 1. pag. 42. f. Heft 3. pag. 75. ff.), ebenso ist auch die
Fortdauer der Hilfsbedürstigkelt nicht dadurch ohne Weiteres ausgeschlossen, daß die Unterstützung
aufgehört hat. Im vorliegenden Falle muß die festgestellte Hülfsbedürftigkelt des Knaben unbe-
denklich als fortbestehend auch während der Zeit seines Umherstreifens anerkannt werden, in welcher
die Armenpflege nur deshalb sistirt war, weil er sich derselben entzogen hatte.
Ueber die Frage, in welchem Umfange ein Unterstützungsbedürfniß anzuerkennen ist, wenn erwerbsfähige Pe-
sonen lediglich durch Wohnungsmangel obdachlos werden, spricht sich ein Erkenntniß des Bundesamts
der Streitsache Neustadt-Magdeburg wider Crakau vom 13. April 1874 folgendermaßen aus:
Mit dem ersten Richter war anzunehmen, daß der Topfbinder K., welcher unbestritten vom
1. Oktober 1869 bis 1. Juni 1871 zu Neustadt - Magdeburg sich aufhielt und in Schlafstelle poli-
zellich gemeldet war, durch einjährigen Wohnsitz an diesem Orte nach §. 1 Nr. 2 des Armenpflege-
gesetzes vom 31. Dezember 1842, Artikel 1 der Novelle vom 21. Mai 1855, ein Hülfsdomizll er-
worben hatte und desselben am 24. März 1873 noch nicht verlustig gegangen war. Denn der
Umstand allein, daß K. damals keinen eigenen Hausstand hatte, schließt die Absicht der Nieder-
lassung und damit die Begründung eines Wohnsitzes im Sinne der zuerst allegirten Gesetzesbestimmung
keineswegs aus. Gleichwohl war der Berufung des Verklagten stattzugeben, weil die Hülfs-
bedürftigkeit des K., welche Verklagter in jetziger Instanz bestritten hat, vom Kläger nicht dargethan,
wenigstens die Dauer derselben nicht nachgewlesen ist.
Ein Unterstützungsbedürfniß lag nach der eigenen Darstellung des Klägers nur insofern vor,
als für wohnliche Unterbringung des K. besorgt werden mußte. Derselbe war, wie unter Beweis
gestellt ist, am 24. März 1873 von seinem bisherigen Wirthe D. exmittirt worden, weil er den
Miethzins nicht bezahlen konnte, und meldete sich als obdachlos, indem er vorstellte, daß er den
Aufenthalt in Gasthöfen nicht mehr bestreiten könne und sich vergeblich nach einer anderen Wohnung
umgesehen habe. Er wurde, wie Kläger behauptet, auf Kosten der Gemeinde bei D. wieder unter-
gebracht. Gleichwohl wurde er am 4. August 1873 von D. abermals aus dem Hause gesetzt und
nunmehr auf Kosten der Gemeinde in einem Stalle des D. einquartlert, bis er auf geführte Be-