Full text: Central-Blatt für das Deutsche Reich. Zweiter Jahrgang. 1874. (2)

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lichen Zeugnisses sich krank gemeldet, aber Aufnahme in dem dortigen Krankenhause nicht gefunden 
halte, sondern mit Schnellzug nach Göttingen befördert worden war. Die Heimathlosigkeit des S. 
betrachtet Kläger als außer Zweifel gestellt durch die Angaben desselben über seine Aufenhaltsver- 
hältnisse und die mit dem Königlichen Landrathsamte Heiligenstadt gepflogenen Verhandlungen. 
Nach seiner Aussage vom 19. Dezember 1871 ist S. im Jahre 1839 geboren, seine Eltern 
sind 1849 nach achtjährigem Aufenthalte in Heiligenstadt gestorben; er ist längere Zeit, wie er sagt 
auf Reisen gewesen, hat sich in den verschiedenen Arbeitsorten nie lange aufgehalten, namentlich 
nicht 2 Jahre lang, war vom 9. Februar bis 23. März 1871 in Frankreich als Krankenpfleger 
thätig, vorher und nachher aber in Berlin, zuletzt auch in Allona als Seiler beschäftigt. Die vor- 
gelegten Akten enthalten nichts, was diese Angaben ergänzt, mit Ausnahme eines Schreibens des 
Magistrates zu Heiligenstadt vom 19. Juli 1872, in welchem erwähnt ist, daß S. diese Stadt im 
Jahre 1862 verlassen habe und am 27. März 1871 erst besuchsweise zurückgekehrt sei. 
Verklagter bestreitet seine Ersatzverbindlichkeit aus dem doppelten Grunde, weil die Domizillosigkeit 
des S. nicht nachgewiesen, und weil die Hülfsbedürftigkeit desselben nicht im Bezirke des verklagten 
Armenverbandes hervorgetreten sei.   
Den ersten Grund hat der erste Rlchter für zutreffend erachtet und deshalb, wie erwähnt, die 
Klage abgewiesen.   
Die Berufung des Klägers ist begründet. 
Wenn man auch dem ersten Richter darin beitreten muß, daß die äußerst oberflächliche Ver- 
nehmlassung des S. (Klageanl. A.), welche die Dauer der Abwesenhelt desselben von seinem Heimaths- 
orte Heiligenstadt seit zurückgelegtem 24. Lebensjahre nicht bestimmt erkennen läßt, zur Begründung 
der behaupteten Heimathlosigkelt nicht genügt, so erglebt doch das mit der Replikschrift überreichte 
Schrelben des Magistrates zu Hellgenstad vom 19. Juli 1872, dessen Inhalt nach abschriftlicher 
Mlttheilung vom Verklagten nicht bestritten worden ist, daß S., als er am 27. März 1871 auf 
kurze Zeit nach Heiligenstadt zurückkehrte, durch mehr als dreijährige ununterbrochene Abwesenheit 
seines dortigen Hilfsdomizils in der That verlustig gegangen war. Da es nun ferner an jedem An- 
halte für die Annahme fehlt, daß S. auf seiner Wanderschaft an einem der Orte, wo er als Seiler- 
geselle in Arbeit gestanden hat, durch ununterbrochenen drei- resp. zweljährigen Aufenthalt seit 
Zurücklegung des 24. Lebensjahres oder durch förmliche Aufnahme ein neues Hilfsdomizil begründet 
habe, so unterliegt es keinem Bedenken, denselben als landarm beim Eintritte der Hilfsbedürftigkeit 
anzuerkennen.     
Die Hülfsbedürftigkeit des S. ist aber nicht erst in Göttingen, sondern schon in Kassel her- 
vorgetreten. Dies ist nicht blos durch seine eigene Aussage (Klageanlage A.), welcher Verklagter 
nicht widersprochen hat, sondern auch durch das von beiden Parteien in Bezug genommene wundärzt- 
liche Zeugniß des Dr. H. vom 18. Dezember 1871 (Klageanl. B.) zur genüge dargethan. Aus 
beiden sich gegenseitlg ergänzenden Schriftstücken geht mit Sicherheit hervor, daß S., an einem 
Beingeschwür und an Kehlkopfkatarrh leidend, in Kassel Heilung auf öffentliche Kosten nachgesucht 
hat, und daß ihm die — nach fernerem Inhalt der Klageanlage B. — von der Polizeibehörde zu 
Kassel selbst beantragte Aufnahme in das Landkrankenhaus nicht zu theil geworden, vielmehr seine 
Weiterbeförderung mit Eisenbahn in's Werk gesetzt worden ist, weil er noch transportabel war. Der 
letztere Umstand, welchen Verklagter für sich geltend macht, vermag indessen das eingeschlagene Ver- 
fahren ebensowenig zu rechtfertigen, wie dadurch das örtliche Hervortreten des Unterstützungs-Be- 
dürfnisses in Kassel beseitigt wird. Mußte, wie nach § 28 des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870 
nicht zu bezwelfeln, der Armenverband Kassel dem Kranken die nachgesuchte Unterstützung selbst ge- 
währen, auch wenn er noch transportfähig erschien, so konnte die Sachlage, gegenüber der Vorschrift 
im 3 30 lit. b. des Reichsgesetzes vom 6. Juni 1870 rechtlich unter allen Umständen durch die 
Weiterbeförderung des Kranken seitens der Polizeibehörde zu Kassel nicht zum Nachtheil eines 
anderen Landarmenverbandes verändert werden.  
 
	        
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