Volkstümliches aus dem Nachlasse von Rudolf Hildebrand. 107
Hier fallen die Kinder am Schlusse natürlich nicht um,
sondern beginnen das Lied von vorne. Ebenso in Reudnitz,
nur mit fliegt statt fällt. Eine Mischung ist wieder in
Hohenleuben üblich:
Bauer, Bauer, Kesselein,
Morgen trag mer Wasser ein,
Fliegt ene weiße Taube nein,
Fällt der ganze Kessel ein.
Die weiße Taube, das fühlt jeder, muß den Schluß
bilden. Denn man ahnt jetzt den ganzen Zusammenhang:
„Bist du so weit und hast Herd, Kessel und Braut
(junge Frau), die sich von selbst versteht auch wo sie nicht
mit erwähnt wird — obschon man als dritte Zeile wünschte,
wie gewiß auch gesungen wurde oder noch wird: Trägt die
Braut das Wasser ein' — dann kommt dir gleich zum
Hochzeitmahle der Segen des Himmels, er schickt dir selbst,
was noch fehlt, in den Kessel, das Feinste und Beste, was
er aus seinen Vorräten geben kann; die weiße Taube ist
aber gewiß zugleich als Bote und Bürge von Frieden und
Reinheit, Liebe und Treue gemeint .. So gelten noch
jetzt im Volksaberglauben Tauben, besonders Turteltauben,
als glückbringend für das Haus, als Herrgottsvögel, sie
werden besonders in Beziehung gesetzt zum Glück des Hauses
in Liebe, Ehe und Treue . “ Daß der Himmelsbote ver-
speist wird, ist nicht auffälliger, als das Verzehren der
heiligen Martinsgans.
Ist der Inhalt des Kesselliedes somit wiederhergestellt,
so folgt, daß es von Haus aus gar kein Kinderlied, sondern
ein Hochzeitlied ist, das Erwachsene als Tanz und Spiel auf-
führten, vielleicht ein Stück aus einem größeren Hochzeit-
spiel. Das haben dann die Kinder aufgegriffen, auch die
Entstellungen. Das Einfallen des Kessels mag von jungen
Burschen herrühren, die in der Zeit nach der Blüte unserer
mittelhochdeutschen Dichtung dem damaligen rohen Geschmacke
solgten und die Zartheit durch Derbheit ersetzten.