Full text: Die Verfassung des Deutschen Reichs mit Erläuterungen.

V. Reichstag. Art. 22. 419 
II. Der Begriff der Offentlichkeit. 
Eine der wichtigsten politischen Funktionen des Reichstags liegt darin, 
daß er ein Organ der öffentlichen Meinung ist; val. Art. 20le S. 396f. 
Dieser seiner Aufgabe entspricht es, daß seine Verhandlungen öffentlich sind. 
Die Offentlichkeit gibt sich nach zwei Richtungen kund: einmal darf das 
Publikum — unentgeltlich und ohne Einschränkung auf bestimmte Personen- 
kreise — soweit es der Raum gestattet, den Verhandlungen des Plenums 
beiwohnen. Ferner ist den Vertretern der Presse nicht nur die Anwesen- 
heit gestattet, sondern ihre Berichterstattung ist durch die Bestimmung 
des Abs. 2 sichergestellt. Nach §§ 64, 67 G.O. kann der Präsident des 
Reichstags, der ausschließlich die Polizeigewalt im Sitzungsgebäude ausübt, 
die Zuschauertribünen räumen lassen, wenn dort störende Unruhe entsteht, 
oder diejenigen von der Tribüne entfernen lassen, die dort Zeichen des 
Beifalls oder Mißfallens geben oder sonst die Ordnung oder den Anstand 
verletzen. Hierin liegt kein Widerspruch zu der durch die Verfassung vor- 
geschriebenen Offentlichkeit der Verhandlungen, da noch die Möglichkeit der 
Berichterstattung durch die Presse bleibt. Daß sämtliche Tribünen geräumt 
werden müssen, ist nach den Einrichtungen des Reichstags nicht wahrscheinlich, 
weil gewisse Logen für abgegrenzte Kreise vorbehalten sind, von denen 
nicht anzunehmen ist, daß sie Maßregeln der Sitzungspolizei erforderlich 
machen werden. Wenn freilich sämtliche Tribünen geräumt werden müßten, 
so ist die Offentlichkeit tatsächlich ausgeschlossen, und es dürfte dann, wie 
Zorn I S. 244 A. 69 mit Recht bemerkt, nur übrig bleiben, die Sitzung zu 
unterbrechen. Man kann sich für die gegenteilige Ansicht nicht auf die Ana- 
logie des § 178 G. . G. berufen, wonach dem Vorsitzenden der Gerichts- 
verhandlung, obgleich auch für die letztere die Offentlichkeit vorgeschrieben 
ist, die Befugnis zusteht, eventuell die Entfernung des ganzen Publikums 
zu veranlassen. Denn selbst wenn es hier — ohne Ausschluß der Offentlich- 
keit — zu einer vollständigen Ausschließung des anwesenden Puvlikums mit 
Einrechnung der Vertreter der Presse kommen sollte, so handelt es sich da- 
bei um eine durch das G.V. G. pofitiv gegebene Befugnis, deren Anwendung 
gesetzlich geschützt ist, auch wenn sie mit dem allgemeinen Prinzip an sich 
nicht vereinbar ist. Die Vorschriften der G.O. des Reichtags aber haben 
keine Gesetzeskraft und ihre Anwendung darf nicht zu einem Ergebnis führen, 
das mit der Verfassung im Widerspruch steht. 
III. Geheime Sitzungen des Reichstags. 
§ 36 der G.O. des Reichstags bestimmt: 
„Die Sitzungen des Reichstags find öffentlich. Der Reichstag tritt 
auf Antrag seines Präfidenten oder von zehn Mitgliedern zu einer geheimen 
Sitzung zusammen, in welcher dann zunächst über den Antrag auf Aus- 
schluß der Offentlichkeit zu verhandeln ist." 
Die Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung ist zweifelhaft. Sie ist 
dem Art. 79 der preuß. Verf.Urk. entnommen, wo geheime Sitzungen 
— als Ausnahmefälle — ausdrücklich in der Verfassung vorgesehen sind. 
Abs. 2 des Art. 22 enthält zwar die Bezeichnung „öffentliche Sitzungen“, 
ein Ausdruck, der für sich allein betrachtet, die Vermutung nahe legen würde, 
daß es auch nichtöffentliche Sitzungen gibt. Jedoch handelt es sich dabei 
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