Analogien zur Servianischen Verfassung. 103
geblich gefundene alte Urkunde benutzt wird, um eine irgendwie
reformierte oder sonstwie neugeschaffene Politik damit zu
begründen, haben wir im Altertum wenigstens drei- bis
viermal. Als bei den Juden die Frommen den Jahvedienst
durchführen und gegen alle bisherigen Anfechtungen sichern
wollten, da wurde unter König Josias, etwa im Jahre 600 v.Chr.,
ein Stück Gesetzbuch gefunden, das wir heute im fünften
Buch Moses haben. Und als wiederum die Juden zurück-
kamen aus der babylonischen Verbannung und nun das
Volk in den festen Formen der theokratischen Verfassung
zusammengehalten werden sollte, da fand man abermals
eine heilige Schrift, den Priester- Koder, der heute einen
großen Teil des Pentateuch ausmacht. Als die Aristo-
kraten in Athen einen Verfassungsumsturz machen wollten,
im Jahre 411, da fand man die Verfassung des Drakon.
Als in Sparta eine Reformgesetzgebung gemacht werden
sollte, fand man die Gesetzgebung des Lykurg.
Alle diese Gesetzgebungen sind also Fiktionen einer
späteren Zeit, die einer bestimmten Tendenz dienen sollten
und so geschickt gemacht waren, daß sie die Jahrhunderte
wirklich genasführt haben. Sobald aber einmal erkannt
ist, daß in Rom niemals ein Mittelstand als politische
Potenz hervortritt, sondern immer nur aristokratische
Magistratur auf der einen, Demokratie auf der anderen
Seite, kommt man bald zu dem Schluß, daß auch die
vielgerühmte Verfassung des Königs Seroius Tullius in
die Sammlung dieser frommen Täuschungen gehört.
Die römischen Staatsrechtslehrer haben den Grundsatz
aufgestellt, daß die Souveränität beim Volke sei, d. h.,
wie wir es jetzt besser ausdrücken, da uns der Begriff
„Volk“ zu mystisch ist, bei der Wählerschaft. Es ist vor-
gekommen, daß eine Volksversammlung sich über die
Der römische
Dualismus.