Wesen der
Majorität.
18 Wesen der Majorität.
aufgewendet werden. Wem es gelingt, noch einen Haufen
ganz Gleichgültiger durch irgendwelche Mittel zur Wahlurne
zu schleppen, der gewinnt. Ist es also das Volk, dessen Wille
durch den Wahlakt zur Erscheinung gebracht wird? Wir
sind in einem offenbaren Dilemma. Eristieren keine Parteien,
so wird die Wahlbeteiligung so klein bleiben, daß von einer
Volksaktion nicht die Rede sein kann. Haben wir aber
Parteien, so zerren sie zwar das Volk auf die Bühne, aber
die Entscheidung fällen Mächte, die Meinungslose zur Ab-
gabe ihres Zettels zu bestimmen verstehen.
Wie ist die Menschheit überhaupt dazu gekommen, der
Majorität das Recht der Regierung über die Minorität ein-
zuräumen? Hat die Idee der Majorität einen tieferen sitt-
lichen Grund? So fundamental heute das Majoritätsprinzip
ist, so findet man in der staatswissenschaftlich- philosophischen
Literatur doch sehr wenig darüber, und zwar aus dem durch-
schlagenden Grunde, daß sich wirklich nicht viel darüber
sagen läßt. Daß auf seiten der Majorität immer die größere
Klugheit sein muß, läßt sich nicht wohl behaupten. Der
einzige Grund für ihre Herrschaft ist, daß die größere Masse
auch die größere Macht darstellt.
Es ist ein rein praktisches Prinzip. Wenn man Bürger-
kriege vermeiden will, läßt man die regieren, die bei einem
Kampfe auf jeden Fall die Oberhand haben würden, und
das sind die Meisten*). Da es nun auch noch andere Mächte
*) G. Simmel, Soziologie, S. 186 ff., hat versucht, das Majoritäts-
prinzip psychologisch tiefer zu begründen, m. E. ohne Erfolg und auch
nicht ohne historische Fehler.
Gierke, „Über die Geschichte des Majoritätsprinzips“ (S. 320),
macht darauf aufmerksam, daß das Majoritätsprinzip bei uns in der
Tat zuerst im Kampfe zur Anwendung kam; die Gerichtsurteile mußten
noch einstimmig sein, als beim gerichtlichen Zweikampf bereits die Regel
galt, daß, wenn Sieben gegen Sieben kämpften, die Siegermehrheitentscheide.