Full text: Regierung und Volkswille.

40 Ständische Vertretung. Obstruktion. 
vielmehr umgekehrt: Der Ausgleich der tatsächlich vorhandenen 
entgegengesetzten Interessen der verschiedenen Stände wird 
darin gefunden, daß beim allgemeinen gleichen Wahlrecht 
jeder Stand und jedes Interesse den Spielraum hat, sich 
nach seiner Masse und seinen inneren Kräften geltend zu 
machen. 
Freilich, ob eine auf diesem Wege gefundene Majorität 
wirklich den Volkswillen vertritt und geeignet ist, das Beste 
des Staates wahrzunehmen, dagegen haben wir mancherlei 
Bedenken gefunden, und auch in der allgemeinen Meinung 
greifen diese Bedenken immer mehr um sich. Kann eine 
Majorität nicht ebenso tyrannisch sein wie ein Einzelner? 
       Die Abwehr einer derartigen Majoritätstyrannei ist die 
 parlamentarische Obstruktion. Unter Obstruktion versteht 
man das Stillegen der ganzen parlamentarischen Maschinerie 
durch mißbräuchliche Anwendung irgendwelcher geeigneter 
Bestimmungen der Geschäftsordnung: Die Minorität ver- 
hindert die Majorität zum Beispiel, zur Abstimmung zu 
kommen, indem die Redner nicht aufhören, zu sprechen (es 
sind schon Reden von 24 Stunden Länge vorgekommen), 
oder aber, wenn die Majorität mit dem Reden Schluß macht, 
so stellt die Minorität soviel Einzelanträge und immer neue 
Einzelanträge, daß man zur Schlußabstimmung überhaupt 
nicht kommt. Oder aber, wenn die Minorität sehr stark 
ist, so verläßt sie im entscheidenden Moment den Saal und 
macht das Parlament beschlußunfähig. Diese Kunststückchen 
sind im englischen Parlament angewendet worden, spielen 
aber jetzt eine ganz besondere Rolle in Österreich und in 
Ungarn. Man sieht hier die Obstruktion sogar als ein ganz 
legales Mittel des parlamentarischen Kampfes an, obgleich 
es auf der Hand liegt, daß mit dieser Anerkennung das 
Prinzip der Repräsentation und der Majorität sich selber
	        
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