Full text: Regierung und Volkswille.

Wahlbeteiligung. 71 
sein eigener Verstand führen, auch wenn es gegen die 
Meinung seiner Wähler ist, womit freilich die Vorstellung 
von einem Volkswillen, der regiert vermöge der Wahl, hin- 
fällig wird. 
Dieser Respekt vor dem Unterhaus ist nach der ein- 
stimmigen Meinung aller neuesten Beobachter heute, 
nachdem das Wahlrecht so ausgedehnt worden ist, ge- 
schwunden. Die Wähler setzen bei ihren gewählten Ver- 
tretern voraus, daß sie genau nach der Angabe der Partei- 
führer und nach dem Parteiprogramm und nach nichts 
anderem, etwa gar nach ihrer eigenen Einsicht, absiimmen. 
Diese Erscheinung würde dem demokratischen Gedanken völlig 
entsprechen, wenn wirklich die regierende Majorität vom 
Volke oder wenigstens von den Wählern gewählt würde. 
Im alten England wurden die Wahlen bestimmt durch 
die Patronage oder durch die maßgebenden Persönlichkeiten 
in den Wahlkreisen, gestützt auf ihren Einfluß und nach- 
helfend durch Geld. Seit den 70er Jahren sind an die 
Stelle der einzelnen Persönlichkeiten die Wahlvereine ge- 
treten, entweder lokale Vereine oder Landesorganisationen, 
die mit einem amerikanischen Ausdruck der „Kaukus“ ge- 
nannt werden. Eine Wählerschaft als Wählerschaft ist ja 
gar nicht fähig, sich zu einer Wahl zu vereinigen, sondern 
es ist dazu notwendig irgendeine Organisation. Diese 
muß den Kandidaten aussuchen, muß ihn den Wählern 
vorführen und muß namentlich die ungeheure Masse der 
Gleichgültigen oder Unschlüssigen oder Unaufgeklärten heran- 
bringen. Wenn das nicht wäre, würde immer nur ein 
ganz kleiner Teil der Wähler bei den Wahlen erscheinen. 
Bei uns, selbst in der ungeheuren Aufregung nach dem 
Krieg 1870/71, sind nur 51% der Wähler zur Wahl- 
urne gekommen. Das hat sich in den 70—80er Jahren 
Die Wahl- 
maschinerie in 
England.
	        
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