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Bettel- und Wanderwesen
Kolonien nicht ausgenommen werden, unfehlbar
wieder der Landstraße und damit dem Trunk und
Müßiggange verfallen. Erfolge sind den Kolonien
nur insoweit beschieden, als die Leute lange genug
verbleiben. An einigen Stellen, so namentlich in
dem neu gegründeten Hoffnungstal und Gnaden-
tal bei Berlin nimmt man auch ältere verbrauchte
Leute auf, die hier zur Ruhe kommen und ihre
meist nur geringe Arbeitskraft in ländlicher Arbeit
verwerten können. Auch sind Versuche gemacht,
so namentlich in Bayern, die Kolonien für die kor-
rektionelle Nachhaft an Stelle der Arbeitshäuser zu
verwerten, was im Grunde auf die Anwendung
der bedingten Verurteilung hinauskommt. Die
erste Arbeiterkolonie wurde von Bodelschwingh
1882 in Wilhelmsdorf bei Bielefeld begründet.
Zur Zeit (1910) bestehen 35 Arbeiterkolonien mit
einer Aufnahmefähigkeit von 4919 Personen. Im
Jahre 1909 wurden ausgenommen 9856, entlassen
9376 Personen. Die tatsächliche Dauer eines Auf-
enthalts belief sich auf weniger als 2 Monate bei
1087, 2—4 bei 911, 6—12 Monate bei 387, über
1 Jahr bei 259 Personen. Aus den Arbeiterkolo-
nien gelangten im Jahre 1907 2122 in geordnete
Verhältnisse zurück, während 1626 wegen schlechten
Betragens entlassen wurden, und 50—60%09 nach
einiger Zeit die Kolonie wieder verließen, wohl
meist um sich, namentlich in der Sommerzeit, dem
Landstreicherleben wieder zuzuwenden. Zweifel-
los sind unter diesen sehr viele, die eine regelmäßige
Arbeit weder finden, noch auch zu verrichten im-
stande sein würden, d. h. Leute, die eigentlich der
dauernden Fürsorge durch die APflege bedürftig
sind. Diese dürfen natürlich nicht dem Leben auf
der Landstraße überlassen, sondern müssen durch
die APpflege versorgt werden. Da sie sehr ungern
freiwillig in einer Anstalt verbleiben, so müßte ein
Zwang gegen sie durch Entmündigung geübt wer-
den, was fast ausnahmslos möglich sein wird, da
es sich fast immer um Trinker handelt.
8 4. Herbergen zur Heimat. Sie gehören in-
sofern in diesen Zusammenhang, als sie, zuerst 1854
von Perthes, in der Absicht begründet sind, min-
derbemittelten jedoch noch zahlungsfähigen Rei-
senden, namentlich Handwerksburschen, für kurze
Zeit eine Unterkunft zu gewähren und ihnen zur
Erlangung einer Arbeitsstellung behilflich zu sein.
Die Zahl der Herbergen beträgt nach dem letzten
Jahresbericht (1908) 454; außerdem sind noch 216
an Verpflegungsstationen angeschlossene Herber-
gen vorhanden. Es wurden insgesamt 2 622 000
Personen in 4 547 208 Schlafnächten beherbergt;
in den Ziffern, die gegen die Vorjahre erheblich
gestiegen sind, spiegelt sich die Ende 1907 ein-
setzende wirtschaftliche Krise. Die Herbergen zur
Heimat sind seit 1885 in Landes- und Provin-
zialverbände und diese in den deutschen Herbergs-
verein (E. V., Sitz in Bethel bei Bielefeld) zu-
sammengefaßt.
#5. Die Fürsorge für Obdachlose gehört an
und für sich in den Rahmen der armenpflegerischen
Maßregeln, da der Averband, ebenso wie zur
Gewährung von Nahrung und Kleidung, auch zur
Gewährung einer Wohnung verpflichtet ist. Dieser
Verpflichtung wird durch Hingabe von barem
Gelde zur Wohnungsmiete, durch vorübergehende
Aufnahme in Herbergen, Asylen oder dergl. ge-
nügt, sofern es sich um die seßhafte Bevölkerung
des Gemeinwesens handelt. Neben dieser seß-
haften Bevölkerung befindet sich aber, namentlich
in den größeren Städten, eine nicht geringe Zahl
von Persönlichkeiten, die nicht seßhaft sind, d. h.
keine feste Wohnung besitzen und die, obwohl sie sich
in der Stadt aufhalten, tatsächlich die eigentüm-
lichen Wesensmerkmale der wandernden Bevölke-
rung aufweisen. Reitzenstein hat sie zutreffend die
f„unstete Bevölkerung der Großstädte“ genannt.
Es befinden sich darunter Leute, die soeben erst
nach der Stadt gekommen sind um Arbeit zu
suchen; andere, die wegen Verlusts der Arbeit
soeben obdachlos geworden sind, vor allem aber
jene große Klasse von Leuten, die von unredlichem
Erwerb, Prostitution, Verbrechen, Bettel und
dergl. leben, die häufig das Quartier wechseln,
namentlich wenn sie von den Behörden Unbe-
quemlichkeiten zu befürchten haben. Ihnen gegen-
über versagt die auf der Voraussetzung der Seß-
haftigkeit beruhende und auf dem Grundsatz der
Individualisierung aufgebaute Armenpflege, weil
der Notstand sehr plötzlich in die äußere Erschei-
nung tritt, schneller Abhilfe bedarf und weil die
Unterstützung in individualisierender Form diesen
Kategorien gegenüber sehr schwierig ist. Da aber
die öffentliche APflege in ihrer Funktion als poli-
zeiliche APflege auch für diese Klasse von wirk-
lichen oder angeblichen Bedürftigen sorgen muß,
so sucht sie dieser Pflicht durch Darbietung von
Nachtquartier zu genügen. Solche häufiger als
Asyl für Obdachlose bezeichneten Quartiere
befinden sich in großem Maßstabe in Berlin, Bres-
lau, Leipzig, Dresden, Frankfurt u. a. In Berlin
ist in dem Asyl für etwas mehr als 3000 Personen
Raum, der in kalten Wintermonaten auch voll-
ständig ausgenutzt wird. Daneben bestehen in
Berlin, Breslau, Hamburg und anderen Orten
private Asyle für Obdachlose, von denen das Ber-
liner eine Fassungskraft von 1000 hat. Sie unter-
scheiden sich von den öffentlichen Asylen durch den
Grundsatz der Anonymität, indem sie jeden auf-
nehmen, der sich als obdachlos meldet, ohne irgend-
wie seine Verhältnisse zu prüfen. Es leuchtet
ein, daß diese Art der Versorgung mit den Grund-
sätzen gesunder APPflege nicht vereinbar ist. Die
Verwaltung ist nicht in der Lage zu prüfen, ob
es sich um einen wirklich Bedürftigen handelt, dem
weiter zu helfen eine Pflicht der Menschlichkeit sein
würde, oder ob es sich um jemanden handelt, der
die Darbietung lediglich mißbraucht, weil er in der
Lage ist, sich aus eigenen Kräften zu helfen. Aber
auch die Asyle der öffentlichen APflege leiden an
ähnlichem Mangel, da die überaus große Zahl der
Asylgäste ein individualisierendes Eindringen in
die Verhältnisse nicht gestattet. Praktisch kommt
es tatsächlich darauf hinaus, daß jedermann, der
ohne Unterkunft ist, das Agsyl straflos benutzen
darf. Dieser eigentümliche Charakter der Obdach-
losigkeit der unsteten im Gegensatz zu der seßhaften
Bevölkerung bringt es mit sich, daß diese Kategorie
daher auch tatsächlich den Bettlern und Land-
streichern in bezug auf die strafrechtliche Behand-
lung gleichgestellt wird. Hier ist die oben genannte
Vorschrift & 361, 8 StG B maßgebend, wonach je-
mand mit Haft bestraft und zur korrektionellen
Nachhaft überwiesen werden kann, der sich inner-
halb einer ihm von der zuständigen Behörde be-
stimmten Frist kein anderweites Unterkommen
verschafft hat und auch nicht nachweisen kann, daß
er solches der von ihm angewandten Bemühungen