744 Kaiser Wilhelm II.
der Sozialdemokratie die Mittel zum Kampfe zu entreißen. Schwere Tage kamen
für den Kaiser, trübe Zeiten für die Nation. Der Fürst von Bismarck nahm seinen
Abschied (20. März 1890), und die warme Dankbarkeit, die heiße Liebe und die
glühende Bewundein seines Kaisers wie seines Volkes nahm er mit sich in seinen
Sachsenwald, wohin er sich zurückzog. Neid und Mißgunst, die der Fürst so oft
in seinem Leben von Gegnern erfahren hatte, erhoben jetzt zwar kühner noch das
Haupt, und schließlich versagte sogar der Reichstag die Teilnahme am 80. Ge-
burtstage seines Schöpfers, dessen Mund nun freilich auch manch bitteres Wort
aussprach. Aber die wiederholten Besuche seines kaiserlichen Herrn in Friedrichsruh,
andere kaiserliche Anszeichnungen, der jubelnde Empfang, der ihm auf seinen Reisen
in allen deutschen Gauen bereitet wurde, die schier endlosen Wallfahrten des ganzen
Volkes nach seinem Landsitz mochten den Fürsten doch von der tiefen Dankbarkeit
und Verehrung überzeugen, welche im Herzen der Nation für ihn lebt. Wahrlich, sie
wird ihm bleiben bis ans Ende der Tage. Aber trotz seines Rücktrittes ist, dank
vorzüglich der Mitwirkung des Staatsministers von Boetticher schon Großes
erreicht, und nichts ist unberechtigter, nichts unwahrer, als unsere Zeit, weil
auch jetzt noch der Staat Schwächen und Lücken aufweist, auch jetzt noch Unrecht
und Sünde geschieht, des Niederganges anzuklagen. Im Gegenteil, wir sind ein
aufsteigendes, ein vorwärts strebendes Volk. Nirgend ist Stillstand, nirgend
Rückschritt, überall vielmehr berrscht Leben, herrscht Rührigkeit, waltet Arbeit
und Fleiß, Streben und Thätigkeit
Wie scharf auch immer . allen Gebieten der geistigen Entwickelung, der
Wissenschaft und Künste, entgegengesetzte Richtungen mit einander streiten mögen,
so bürgt doch gerade der Kampf für den Fortschritt. Unverhältnismäßig höhere
Mittel als jemals früher stehen den Universitäten, Akademien, Museen und anderen
Bibungsansalten zu Gebote, und hoch bedeutende Männer sind mit Erfolg be-
müht, die Schätze der Wissenschaft zu heben. Mit früher niemals geahnter
Liberalität wird den Künsten die Möglichkeit gewährt, sich frei zu entfalten, immer
neue Aufgaben stellt ihnen der Kaiser selbst. Die Litteratur, wie viel Spreu sie
auch bergen mag, zeitigt doch auch manche herzerfreuende Blüte. Neue und wieder
neue Erfindungen, andere und wieder andere Aufschlüsse über die Naturkräfte
geben unserem Leben nicht nur größere Behaglichkeit, sondern wirken. umgestalten
und fördernd auf alle Kultur-Verhältnisse. So begreift es sich, daß im Lause
der letzten 25 Jahre der Ausgabe-Etat des Kultusministeriums um das Fünf-
fache gewachsen, die Arbeit seiner Beamten unermeßlich gestiegen ist. Mehrfach
wurden jetzt die Lehrpläne der höheren Schulen beraten und teilweise geändert,
durch reiche Unterstützungen die Erfolge der medizinischen Wissenschaft für die
Allgemeinheit nutzbar gemacht.
Eine Reihe von zeitgemäßen Aenderungen wurde im Heerwesen vorgenommen,
eine Felddienstordnung und Exerzierreglement für die Infanterie gegeben und dem
Reichstage ein neues Militärgesetz vorgelegt, wonach unter Herabsetzung der
Dienstzeit auf zwei Jahre jährlich 40000 Rekruten mehr eingestellt, die Ersatz-
reservisten, jährlich 18000 Mann, voll ausgebildet werden sollen. Scharf trat die
pposition dem Entwurf wieder entgegen, der Reichstag mußte aufgelöst werden,
der neu zusammengetretene aber nahm ihn nach geschickter Verteidigung durch
den neuen Kanzler von Caprivi gegen vielseitige Angriffe unter Zustimmung des
Zentrums an. Immer mehr wurde der Gedanke Scharnhorsts, wurde die seit