748 Kaiser Wilhelm I1.
zur Beschlußfassung vor, und dieser hat wirklich das Werk zum Abschluß gebracht,
ein Werk, dessen Vollendung eine Zierde und Ehre für das deutsche Volk wie selten
eines ist, das seinen Segen voraussichtlich auf Jahrhunderte hinaus spenden und
deren Dankbarkeit seinen Schöpfern erwecken wird. Dem Zentrum wurden überaus weit
gehende Zugeständnisse, selbst die Freigebma der einst gesperrten Gehälter opponieren=
der Geistlichen gemacht und so die äußerste Bereitwilligkeit des Staates, mit der
katholischen Kirche in Frieden zu leben, schlagend bewiesen. Die Selbständigkeit
der evangelischen Kirche wurde durch den Fortfall der Zustimmung des Landtages
zu Aenderungen im Wahlverfahren erweitert, vor allem aber wurden durch die
thatkräftige und hingebende Fürsorge der Kaiserin= Königin Auguste Viktoria
namentlich in Berlin eine überaus große Zahl von Kirchen neu erbaut, das kirch-
liche Leben vertieft und verallgemeinert, also daß das „praktische Christentum“, einst
ein von den Hosiionsparteie bespölteltes Wort Bismarcks, den weitaus meisten
Zeitgenossen in Fleisch und Blut übergegangen ist.
Gerade dies aber und nicht minder die Steuerreform wird wesentlich dazu
beitragen, das gewaltige Werk des Kaisers, die soziale Reform, die Versöhnung
der Gesellschaftsklassen der Vollendung entgegenzuführen. Schon hat die soziale
Gesetzgebung in dem Arbeiterschutz, der weiteren Beschränkung der Frauen= und
Kinderarbeit, in der Sonntagsruhe, vor allem in der Altersversorgung, den für
den Arbeiter kostenfreien Schiedsgerichten und in dem bis zur Spitze, bis zum
Reichsversicherungsamt ausgebildeten Grundsatz der Selbstverwaltung einen gewissen
Abschluß erreicht, in der Aufhebung des Sozialistengesetzes und vor allem in der
internationalen Konferenz, die der Kaiser alsbald nach seiner Thronbesteigung
berief, neue Bahnen eingeschlagen. In Verbindung mit der sozialen Gesetzgebung
wurde in der Presse der Rücktritt des Fürsten von Bismarck gebracht, und die
Frage, wie die Umsturzparteien zu bekämpfen seien, soll auch die Entlassung des
Grafen von Caprivi (Oktober 1894) herbeigeführt haben, an dessen Stelle nun
der Statthalter von Elsaß-Lothringen, Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst,
zum Reichskanzler ernannt wurde. Mehr und mehr bricht sich selbst hier und
da bei den Sozialdemokraten die Ueberzeugung durch, daß der Staat gewillt und
auch befähigt ist, das Los der Arbeiter zu verbessern. Schon ist von 1886 bis 1891
trotz aller wirtschaftlichen Schwierigkeiten der Jahreslohn der versicherungs-
pflichtigen Arbeiter um 15 Prozent, von 732,15 Mark auf 348,71 Mark in
regelmäsigen Abstufungen gestiegen, eine überraschende Vermehrung im Verbrauch
notwendiger und kostbarer Nahrungsmittel eingetreten, selbst das Ausland hat
anerkannt, wie viel besser die wirtschaftliche Lage des Arbeiters in Deutschland
als in England sei, und in Frankreich hat man, trotz oder gerade wegen der
republikanischen Verfassung, bisher eine soziale Reform überhaupt noch nicht durch-
setzen können.
Aber ungeachtet aller Fortschritte bleibt doch noch eine Reihe von Aufgaben
zu lösen, noch erhebliche Schwierigkeiten sind zu überwinden, wenn, wie es in einer
Thronrede des Kaisers heißt, der arbeitenden Klasse die Gewißheit verschafft
werden soll, daß die gesehzgebenden Gewalten für ihre berechtigten Interessen und
Wünsche ein warmes Herz haben, und daß eine befriedigende Gestaltung ihrer
Lage nur auf dem Wege friedlicher und gesemäßiger Ordnung zu erreichen ist.
Auch dürfen wir uns darüber nicht täuschen. Sie wird noch erhebliche materielle
Mittel erheischen. Nur schrecke man nicht allzu ängstlich vor ihnen zurück! Die