Gesetzgebung und vollziehende Gewalt. 47
schlossene Gesetzesvorlage dem Reichstage auch dann vorzu-
legen, wenn derselbe nach der Entscheidung des Bundesrathes,
abweichend von der kaiserlichen Auffassung, die Formen der
Verfassungsänderung forderte. Denn in der Vorentscheidung
des Bundesrathes liegt der Ausspruch, dass auch die einfache
Majorität des Bundesrathes die Gesetzesvorlage nicht als an-
genommen, nicht dem Reichstag vorgelegt wissen will, wenn
sie nicht die qualifizirte Majorität erreicht.
Es ergiebt sich ferner, dass der Reichskanzler unter sei-
ner Verantwortlichkei# die formelle Verfassungsmässigkeit der
Beschlüsse des Bundesrathes über vorgelegte Gesetzesentwürfe
gegenüber dem Reichstage zu vertreten hat.
Ganz anders liegt die zweite Frage, ob dem Kaiser das
Recht zusteht, aus materiell politischen Gründen einer rechts-
gültig im Bundesrathe beschlossenen Gesetzesvorlage die Ein-
bringung in den Reichstag zu versagen.
Sie kann im gegenwärtigen Rahmen der Verfassung mit
juristisch entscheidenden Gründen nicht bejaht werden.
Ihre Bejahung lässt den Zusammenhang zwischen dem
ersten und zweiten Theil des Artikels unerklärt. Setzt der
erste die formelle Initiative des Kaisers fest, so bestimmt doch
der zweite, dass die dem Reichstage gemachten Vorlagen nur
durch Mitglieder des Bundesrathes oder durch die vom Bun-
desrathe zu ernennenden Kommissarien vertreten werden sollen.
Wenn hiermit nach der Schärfe des Wortlautes sogar jede
Vertretung durch kaiserliche Beamte, insbesondere durch den
Reichskanzler und seine Vertreter ausgeschlossen ist und zum
mindesten eine Vertretung durch solche als rechtlich irrelevant
erscheint, so kann Sinn und Zusammenhang kaum anders als
durch die Annahme gefunden werden, dass trotz der formellen
Initiative des Kaisers der materielle Inhalt der Gesetzesvor-
lagen nicht von seiner Entscheidung, sondern von der des
Bundesrathes abhängt und eben deshalb nicht zu seiner Ver-
tretung, sondern zu der des Bundesrathes steht.
Insbesondere würde die Bejahung jener Frage eine voll-
kommen verschiedene Stellung der beiden legislativen Körper-