Die einzelnen Bestimmungen der deutschen Reichsverfassung. 145
III. Abschnitt,
Die Verfassungsänderungen.
I. Die Bedeutung der Streitfrage.
$ 10.
Aus dem Wesen des Bundesstaates hat man mit Recht
gefolgert:
dass einmal die Rechtssphäre des Gesammtstaates und
der Einzelstaaten scharf gegeneinander abgegrenzt,
dass sodann die Rechte der Einzelstaaten auf Theilnahme
an den Organen und an der Willensbildung der Gesammtheit
festgestellt sein müssen.
Diese Feststellungen gehören zu den wesentlichsten
Punkten jeder Bundesverfassung. Sie berühren die Existenz-
frage unmittelbar sowohl der Einzelstaaten als auch des Bun-
desstaates. |
Es ist gewiss, dass die Fernhaltung der Einzelstaaten als
solcher von den Organen des Gesammtstaates und ihrer Willens-
bildung die Existenz derselben gefährden, dass umgekehrt
eine übermächtige Einwirkung der Einzelstaaten als solcher
auf die Willensbildung der Gesammtheit, wie sie ein weiter
Bereich des Erfordernisses der Stimmeneinhelligkeit der Staa-
ten aufweist, den Bundesstaat nach dem Staatenbund und der
Staatenallianz hindrängen, dass endlich eine äusserliche und
unorganische Nebenordnung der beiden Arten der Gemein-
wesen das im Bundesstaate praktisch und begrifflich ge-
forderte Zusammenwirken beider unmöglich machen würde.
Es ist nicht minder gewiss, dass der Gesammtstaat durch
Erweiterung oder Verengerung seiner Kompetenzen im Ver-
hältniss zu den Kompetenzen der Einzelstaaten das Wesen
des Bundesstaates zerstören und ihn entweder in den Einheits-
staat oder in den Staatenbund umschlagen lassen muss.
A. Haenel, Studien. I, 10