182 Drittes Kapitel.
Nach dem Allen lassen sich auf Grund des Alinea 1 des
78. Artikels der Reichsverfassung für Verfassungsänderungen
überhaupt und für kompetenzerweiternde insbesondere, keine
andern formellen Schranken ziehn, als die erschwerten Formen
der Beschlussfassung im Bundesrathe, welche einer Ueberein-
stimmung von 14 Stimmen und damit denn auch den 17 Stim-
men Preussens das Recht der Ablehnung jeder Verfassungs-
änderung einräumen.
Das Alineal vermag die Behauptung nicht zu begründen,
dass die Verfassung des Reiches und seine Kompetenzen auf
einem Vertrage der Einzelstaaten unter einander oder mit dem
Reiche beruhn, der nur auf dem Wege des Vertrages abgeän-
dert werden könnte. Es bietet an entscheidender Stelle keinen
Anhaltspunkt, um das Verhältniss des Reiches zu seinen Glie-
derstaaten aus einer verfassungsmässigen Rechtsmacht in ein
vertragsmässiges Rechtsverhältniss oder in eine völkerrecht-
liche Stellung gegen einander selbständiger Staaten aufzu-
lösen, sei es auch nur in Rücksicht auf die Kompetenzen des
Reiches einerseits und der Einzelstaaten andererseits.
Nur die Untersuchung bleibt übrig, ob das Alinea 2 des-
selben Artikels vertragsmässige Schranken gegenüber dem
Reiche aufrichtet und in welchem Sinne es die schwierige
Frage nach den jura singulorum der Einzelstaaten zur Lösung
bringt.
Reichsangelegenheiten und nicht auch, wie Kompetenzerweiterungen des
Reiches, ein in den spezifischen Wirkungskreis der sächsischen Stände fallen-
des Recht oder Interesse betreffen. Die Majorität der zweiten Deputation
der zweiten Kammer trat dieser Auffassung bei und behielt den Ständen für
diesen Fall nur das Recht der Aeusserung von Wünschen vor, die einer Be-
antwortung verfassungsmässig nicht bedürften. Die Majorität der zweiten
Kammer dagegen ging zwar über den Antrag Ludwig zur motivirten Tages-
ordnung über, dieselbe verwahrte aber den Kammern allgemein das Recht
„in Bezug auf die Stimmabgabe des Königreichs Sachsen im Bundesrath auch
Anträge an den Thron gelangen zu lassen‘‘ — ein Recht, welches vom
Standpunkte des Reichsrechtes aus nicht bestritten werden kann. Mitthei-
iungen über die Verhandlungen des Landtages. II. Kammer. Sitzung vom
23. Febr. 1872. pag. 1163 ff.