222 Drittes Kapitel.
und dass damit eine Schädigung und nicht ein nothwendiges
Opfer des Landesinteresses vorliegt.
Allein diese Regel findet eine Ausnahme in den Vor-
schriften des Alinea 2 des Artikel. 78 der Reichsverfassung.
Den Bestimmungen desselben kann kaum ein. anderer
Gedanke zu Grunde liegen als die verfassungsmässige Aner-
kennung, dass, soweit die Sondervorschriften reichen die Inter-
essen des Einzelstaatesmit denen desReichesmindestens gleich-
werthig sind, dass gerade darum der Einzelstaat reichsver-
fassungsmässig nicht verpflichtet ist, das Opfer dieser Vor-
schriften zu bringen, dass insbesondere nicht das Reich, son-
dern der Bundesstaat selbst das Urtheil über die Fortdauer
oder den Wegfall seiner anerkannten Sonderinteressen zu
fällen habe. Ist dies aber der Fall, dann kann es auch nicht
als dieAbsicht der Reichsverfassung vorausgesetzt werden, jenes
Urtheilschlechthin dem einseitigenBefinden der Staatsregierung
anheimzustellen. Das Staatsministerium des Einzelstaates
vielmehr ist nach Reichsrecht berechtigt und nach konstitutio-
nellem Landesrecht verpflichtet, ein solches von massgebenden
Folgen für das Recht und die Wohlfahrt des Landes beglei-
tetes Urtheil nicht ohne das Einverständniss der Landesver-
tretung abzugeben, wenn es dieses Einverständnisses sich in.
Formen versichert, welche es nicht unternehmen, die Gesetz-
gebung des Reiches an ihr fremde Erfordernisse zu Knüpfen
oder die Landesgesetzgebung mit jener in Widerspruch zu
setzen. Versäumt das Ministerium sich dieses Einverständ-
nisses zu versichern oder setzt es sich über das Urtheil der
Landesvertretung hinweg, so kann auch das rechtsgültig er-
lassene Reichsgesetz die Pflichtwidrigkeit nicht heilen. Denn
das Reich war berechtigt und verpflichtet, die bejahende
Stimme des Bundesstaates im Bundesrathe als rechtsgültig
abgegeben anzusehn, aber es war weder berechtigt noch ver-
pflichtet, über die Fortdauer des Landesinteresses an der ab-
geänderten Sondervorschrift zu befinden und auch das erlassene
Reichsgesetz ändert an der Bestimmung der Reichsverfassung
nicht, dass für seine Erlassung das besondere Landesinteresse