Fünftes und Schlusskapitel. 263
des und des deutschen Reiches ein richterliches Prüfungsrecht
über die Rechtsgültigkeit formell gehörig publizirter Gesetze,
Verordnungen, Verfügungen des Staates und seiner Behörden
schlechthin bestreiten. Eine solche Bestreitung ist gegen-
wärtig überall da, wo die Anwendung der zutreffenden Rechts-
norm durch das verfassungsmässige Verhältniss des Reichs-
rechtes zu dem Landesrechte bedingt ist, schlechthin unmög-
lich. Die Verneinung jenes Prüfungsrechtes konnte zu
Gunsten des Landesrechtes nur dann aufrechterhalten
werden, wenn die Rechtsverbindlichkeit der Reichsnormen
von der landesherrlichen Publikation abhängig gemacht wor-
den wäre oder wenn in irgend einem Sinne die Anwendbarkeit
der Reichsnormen durch einen, die richterliche Anerkennung
fordernden Akt der Einzelstaatsgewalt ausgeschlossen oder
auch nur suspendirt werden könnte. Jene Verneinung konnte
aufrecht erhalten werden zu Gunsten des Reichs-
rechtes, wenn die Reichsverfassung das Vorgehn der
Reichsgesetze vor den Landesgesetzen 18 nicht als die Wirkung
einer „nach Massgabe des Inhaltes dieser Ver-
fassung“ ausgeübten Gesetzgebung festgestellt, sondern be-
reits an der Erfüllung der vorgeschriebenen äussern Publi-
kationsformen geknüpft oder wenn dieselbe die partikular-
rechtliche Ausnahmebestimmungüber die Rechtsverbindlichkeit
rechtsungültiger Normen zur Gemeingültigkeit erhoben hätte.
Beides ist nicht geschehn.
Damit ist es Recht und Pflicht des Richters jedes früher
oderspäter erlassene, obwohl formell gültig publizirte, Verfas-
sungsgesetz oder einfache Gesetz, jede Verordnung oder Ver-
fügung des Einzelstaates, welche in Widerspruch stehn mit
einer im gegebenen Falle zutreffenden Reichsnorm, ausser
Anwendung zu lassen. Damit ist es aber auch Recht und
16 Es ist unbestritten, dass der Ausdruck „Reichsgesetze“ im Art. 2. der
Reichsverfassung jede kraft verfassungsmässiger Ermächtigung im Namen des
Reiches ergangene Rechtsnorm bedeutet, sei dies Gesetz, Vertragsbestimmung,
Verordnung oder Verfügung. Selbstverständlich haben dann auch die „Lan-
desgesetze“ die korrespondirende weite Bedeutung.