264 Fünftes und Schlusskapitel.
Pflicht des Richters in dem vorausgesetzten Kollisionsfalle
über die Rechtsgültigkeit der Reichsnorm selbst zu be-
finden. Denn diese Rechtsgültigkeit und nicht blos die ge-
wahrte Publikationsform ist die verfassungsmässige Bedingung
für das Vorgehn der Reichsnorm vor der Landesnorm. Diese
Prüfung wird sich eintretenden Falles erstrecken müssen, auf
die verfassungsmässige Ermächtigung zu den im Namen des
Reiches ergangenen Verfügungen, auf die Verfassungsmässig-
keit der vom Bundesrathe oder vom Kaiser oder von einer
autorisirten Reichsbehörde erlassenen Verordnungen, aber
auch in logischer Konsequenz auf die Verfassungsmässigkeit
ergangener Reichsgesetze — vorausgesetzt dass eine gerichts-
kundige Kontestation sei es seiten des Reichstages oder sei
es seiten eines Bundesstaates die in der Gesetzesform begrün-
dete Präsumtion für die verfassungsgemässe Beschlussfassung
des Bundesrathes über das materiell die Verfassung 3 ändernde
Gesetz gebrochen hat.
In diesem Sinne gewinnt denn der Einzelstaat einen
Schutz durch die Rechtssprüche der Gerichte gegen rechts-
widrige Eingriffe des Reiches in seine Rechtsordnung.
Dieser Rechtsschutz ist lediglich ein indirekter. Er
ist dies, weil der Rechtsspruch nicht den Rechtsstreit zwischen
Reich und Einzelstaat schlichtet, sondern nur einen Inzident-
punkt in einem durchaus verschiedenartigen Rechtsstreite ent-
scheidet, welcher in die begrenzte Kompetenz der Gerichte
fällt. Dies mag sein ein Rechtsfall des Civilrechtes oder des
Criminalrechtes oder auch des öffentlichen Rechtes, insofern
und insoweit auch für das letztere Gebiet Gerichtshöfe ge-
schaffen sind, welche der Hierarchie und Disziplin der Ver-
waltungsbehörden entrückte sind1”. Der Rechtsschutz ist
17 Auch die Verwaltungsbehörden des Einzelstaates werden in die Lage
kommen über die Gültigkeit oder Ungültigkeit von Reichsnormen im Verhält-
niss zu Landesnormen zu befinden. Aber durch eine Entscheidung im Ver-
waltungswege erwächst dem Einzelstaate niemals ein Rechtsschutz, sondern
im Gegentheil gegebenen Falles eine unmittelbare Vertretungspflicht gegen-
über dem Reiche.