130 $ 4. Die Theorie G. Meyer's. [34
den, dass ein Sprachgebrauch der auch das individuelle Ge-
setz, den individuellen Rechtssatz unter die Bezeichnung „Ge-
setz“, „Rechtssatz‘“ zieht, ein anomalischer, weil dem Wesen
der bezeichneten Dinge widersprechender sei. Nur sie würde
die Annahme gestatten, ja fordern, dass wenn auch der ano-
malische Sprachgebrauch in einzelnen Verfassungsbestimmun-
gen nicht geleugnet werden könne, doch überall sonst das
Wort „Gesetz“ nur als allgemeines Gesetz verstanden wer-
den dürfe. Eine solche Behauptung könnte, soviel ich sehe,
nur durch einen doppelten Beweis begründet werden:
einmal dadurch, dass das allgemeine Gesetz von dem In-
dividualgesetz seiner rechtlichen Natur nach ein durchaus
verschiedenes sei,
das andere Mal dadurch — und dies ist die einzige Aus-
führung G. Meyer’s, die als Versuch eines Beweises angeführt
werden kann —, dass das Individualgesetz seiner rechtlichen
Natur nach andern staatlichen Willensbestimmungen so nahe
stände, dass beide, als „Verfügungen“ zusammengefasst, dem
allgemeinen Gesetz gegenübergestellt werden könnten und
müssten.
Beides aber ist irrthümlich.
I. Das allgemeine Gesetz, der allgemeine Rechtssatz und
das Individualgesetz, die individuelle Rechtsregel sind ihrem
rechtlichen Wesen nach gleichartig. Ich nenne Gesetz und
Rechtsregel mit G. Meyer individuell, speziell, wenn sie sich
auf einen oder mehre individuell bestimmte Thatbestände be-
ziehn, allgemein oder generell, wenn der vorausgesetzte That-
bestand nur nach Merkmalen bestimmt ist, die denselben zum
Klassenbegriff machen. Ich vermeide das Wort „abstrakt“ zur
Bezeichnung der allgemeinen Gesetze, Rechtssätze. Denn das
Individuelle ist nicht der Gegensatz zum abstrakten. Abstrakt
ist auch der Individualbegrif. Abstrakt sind auch die indi-
viduellen Gesetze, Rechtssätze, insofern sie den Thatbestand
und die rechtlichen Folgen in begrifflicher Vorstellung prä-
formiren, die in den Willensverhältnissen der Betheiligten ver-
wirklicht, konkret werden.