Kanzler kann daher keine Rede sein. Erhebt dieser trotzdem gegen
jenen die Streitaxt, so ist er im Unrechte. Als oberster Diener
des Kaisers ist der neue Kanzler zur Abwehr von Angriffen bestellt
unter möglichster Wahrung der Grenzen, die durch die außerordent-
lichen Verdienste des Fürsten um Kaiser und Reich gezogen sind.
Selbst von seinem erfahrenen weisen Rat Gebrauch zu machen, ist
ausgeschlossen, solange Bismarck in öffentlichem Kampf gegen das
neue Regiment verharrt, und würde auch ohnedies zur Verrückung
der Kompetenzen und Verwirrung der Begriffe führen.
Aus dieser Grundidee ergab sich alles folgerichtig: Die Unter-
scheidung zwischen dem Fürsten Bismarck früher und jetzt in dem
Erlaß an die Missionen vom 23. Mai 1890. Ebenso die Ver-
sicherung in der Depesche an den Prinzen Reuß vom 9. Juni 1892,
daß, auch wenn Fürst Bismarck den ersten Schritt zur Ver-
söhnung tue, die Annäherung doch nicht so weit gehen könne, um
die Annahme zu begründen, Fürst Bismarck hätte wieder Einfluß
auf die Leitung der Geschäfte. Endlich auch die abweisende Ant-
wort auf einen Bericht des Prinzen Reuß, in dem deutlich genug
die Übertragung des Streites nach Osterreich-Ungarn und die un-
günstige Wirkung auf den Hof und die Gesellschaft in Wien hervor-
gehoben war. Der Prinz wurde daran erinnert, daß ein Streit
gar nicht vorliege, und daß er als persönlicher Vertreter des Kaisers
den Eindruck des Entgegenkommens und der Schwäche gegenüber
dem immer noch frondierenden Fürsten Bismarck zu vermeiden habe.
Der wirkliche Urheber des Uriasbriefes war also kein anderer
als Graf Capridi selbst.
Caprivi war mit Leib und Seele Soldat. Die Nachfolge des
Fürsten Bismarck übernahm er trotz der klaren Erkenntnis, daß er
es als Staatsmann niemals seinem großen Vorgänger gleichtun
werde, einfach weil es so befohlen war. Die Psychologie, die zur
Führung der politischen Geschäfte gehört, war ihm ein fremdes
Gebiet. Auch das wußte er. Wie viele Mißverständnisse hätten
sich vermeiden lassen, wie manche vergiftende Zuträgerei in den
beiden Lagern des alten und des neuen Regiments wäre leicht im
Keime zu ersticken gewesen, wenn er seine soldatische Steifheit über-
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