die einseitige Schwenkung der deutschen Politik in der Caprivizeit
nach England hin ein durch temperamentvolle Reden bei festlichen
Gelegenheiten genährter Argwohn, aber keine Tatsache war. Trotz-
dem lebt sie noch als hartnäckige Legende fort1).
Wie war nun die objektive Wirkung der Nichterneuerung des
geheimen Abkommens auf die europäische Lage? War wirklich
nach der Behauptung am Schlusse des Enthüllungsartikels vom
24. Oktober 1896 Kronstadt mit der Marseillaise und die erste
Annäherung zwischen dem absoluten Zarentum und der französischen
Republik aus diesem Mißgriff der Caprivischen Politik entstanden?
Die richtige Antwort ergibt sich, wenn man auf die Jahre der
Gültigkeit des Abkommens 1887—1890 zurückgeht und unter-
sucht, wie sich in der zweiten Hälfte der achtziger Jahre die Be-
ziehungen Rußlands zu Frankreich entwickelt hatten.
In Frankreich war nach dem Sturze Ferrys die Revanche-
partei obenauf gekommen, man wollte nicht mehr in „nebelhaften
Kolonialunternehmungen“ die Kräfte zersplittern und suchte An-
lehnung an Rußland. Französische (Ribot, Freycinet) und russische
(Mohrenheim, Fredericks) Würdenträger arbeiteten offen und ins-
geheim an dem Ziele der Annäherung. Bismarck sind diese Be-
mühungen natürlich nicht verborgen geblieben, er vermochte sie
aber um so weniger zu hindern, als die Feindseligkeit der russischen
Stimmung gegen Deutschland wuchs. Emsige panflawistische, pol-
nische und französische Einflüsse bearbeiteten den Zaren und seine
Umgebung mit wachsendem Erfolg. Der dänische Hof bildete gleich-
sam den „Umschlagshafen“ des französisch-russischen Verkehrs. Auch
die Aussprache zwischen dem Zaren und Bismarck im Winter 1887
1) M. v. Hagen, Voraussetzungen und Veranlassungen zu Bismarcks
Eintritt in die Weltpolitik, S. 16 ff., will unter irriger Berufung auf das Ent-
lassungsgesuch Bismarcks (siehe oben) den Grund für den Verzicht auf den
russischen Vertrag in einem Kurswechsel zugunsten Englands sehen. Auch die
Waterloorede des Kaisers am 22. März 1890 beim Besuche des Prinzen von
Wales stand in keinem Zusammenhang mit dem Verzicht. — J. Hashagen,
Umrisse der Weltpolitik, I, S. 80, redet sogar von einem „Vasallitäts-
verhältnis“!
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